Der Musik ergeht es wie auch der Dichtkunst, der Malerei, wie dem Ersinnen neuer
Konstruktionen, sie lebt doch von uns sterblichen Menschen, und umgekehrt ist
durch diese erst der Mensch: behaftet mit den eitel sich erhofften Privilegien
- gegenüber Göttlichem durch bittere Schmerzlichkeiten - gegenüber
Niederem durch zartes Hoffen. Wie sollte ein frohes Gemüt denn singen können,
wenn nicht ein Klagen in ihm noch weilt; wie sollte der Gequälte musizieren,
wenn nicht eine Freude ihn dazu noch drängt.
Das Musische lebt vom Menschen und derart in fünferlei Gestalt dabei die
Musik.
Die Musik lebt
- im Klang, der gehört wird
- im Sinn des Hörers
- im Akt des Rezitierens
- im Gedächtnis (erinnerndes Hören)
- im natürlichen Urteil des Hörers
Möge es einem Gescheiten einfallen, eine andere Aufteilung der Arten musikalischen
Seins zu ersinnen, sie wird doch ebenso wie diese von einer Prämisse ausgehen
müssen, nämlich der unbedingten Voraussetzung, ohne die von Musik keine
Spur zu ahnen sei: der Existenz eines Hörers, da jede Art musikalische Aufführung
bereits den Interpreten als Hörer hat: die eigene Reflexion.
Eine Maschine hingegen, ungehört akustische Ergüsse plätschernd,
bleibt der Musik fern, solange dieses niemand hört.
Demnach sind Hörereignisse in folglicher Weise:
- als spontaner Eindruck des Hörens unmittelbar auf eine akustische Information,
- als Verarbeitung akustischer Eindrücke,
- in der Kreation,
- aus der Erinnerung,
- als Verarbeitung akustischer Erfahrungen.
Ein Hörereignis selbst beinhaltet dabei bereits eine Verarbeitung - unterscheidet
sich von anderen nur im Grad der Verarbeitungsstufe; elementar hingegen meint
ein Hörereignis, welches seine Wirkung erreicht zu haben scheint. Elementar
meint also das Hören, gleich welcher Funktionalität, wenn es nur abgeschlossen
sich einem weiteren Verlauf hingibt.
Nach dem elementaren Ereignis des Hörens erst ermöglicht sich der
Ästhet, um auf einer Abstraktionsstufe seines Niveaus vom eigentlich Akustischen
auf das musisch Allgemeine seines Gemütes zu gelangen.
Hier nun aber soll ursächlich deduktiv der Musik nahezukommen versucht
werden.
Ein elementares Hörereignis, als körperliche Reaktion betrachtet,
bedarf einer Ursache: ein schallendes Ereignis, ein Geräusch oder ein Laut.
Erscheinung von Geräusch und Laut
Geräusch und Laut lebt von uns und lebt zu uns.
Geräusch und Laut lebt in der Äußerung und lebt in der Wahrnehmung.
Ein gesprochenes Wort, ein gesungener Ton, ein Schrei geht hinaus; gehört
kann vielerart werden: in Freude, in Furcht...
- Ein Laut lebt in der Äußerung einen Beginn; er wird geformt.
- Dann nimmt er eine greifbare Gestalt an, dem Metaphysiker erreichbar in Frequenz,
Ausbreitungsgeschwindigkeit, in Beugungen und Brechungen, in Kohärenz und
Interferenz etc.
- In der Wahrnehmung lebt der Laut einen Abschluss.
Mit dem Wahrnehmen durch die Sinne, der materiellen Reaktion des menschlichen
Körpers, beginnt für den Menschen das Erlebnis des Hörens. An
diesem Punkt aber verliert das Geräusch seinen Charakter als materielle
Erscheinung. Eben noch war es für Messergebnisse, Daten und Tabellen erreichbar,
auszuwerten durch einen gescheiten, klaren Verstand, nun aber ist es fern jener
Wertung bewusstseinsfremder Apparate. Der wahrgenommene Laut ist Teil geworden
desjenigen Hörers, der dieser Wahrnehmung sich hingab. Das Hören dieses
Lautes wurde für einen Augenblick aufgenommen in den Komplex jener unzählbaren
Prozesse, die, ein Ganzes bildend, den Menschen gerade in Bewegung halten.
Der Laut verliert sich.
<Schallendes Richtungsprinzip>
Der Weg geht immer von der Äußerung zur Wahrnehmung, so wie die Zeit
nur ein Vorwärts kennt.
Dies aber bedeutet, dass es immer einer Überführung bedarf. Alles
was sich bewegt - so auch Geräusch und Laut - bedarf des Raumes, in dem
es sich bewegen kann, wo Geräusche sich ausbreiten, widerhallen, überlagern,
kurz: sich entfalten, und bedarf dafür einer Zeit, die es benötigt,
den Raum zu durchqueren. Jedes Geräusch obliegt dem Zwange, einen Raum
für sich zu beanspruchen, ja selbst noch die reflektierende Wahrnehmung,
dessen, der seine Äußerung als Resultat wieder aufnimmt; dann ist
dieser Raum der Ausbreitung doch der eigene Körper.
Ehe also ein Geräusch in einer Wahrnehmung sich ermöglicht, wirkt
der Zwischenraum über kurz oder lang. Das Geräusch in seiner physikalischen
Gestalt unterliegt dem Medium der zeitlichen und räumlichen Distanz, jener
zwischen Äußerung und Wahrnehmung.
Die Ruhe
Die Ruhe in ihrer subjektfreien Form löst im Bewusstsein den Zustand der
elementaren Wohlempfindung.
Subjektfrei heißt die Ruhe, wenn ihr ein ursprünglicher Charakter innewohnt,
etwas vor den Anfang gesetztes, abstrahierend von jeglichem, was Geschichte hätte.
Anders aber vermag im Beispiel bei einem Maß an Nervosität in einem
Menschen gerade ein Ruhezustand ihn in eine Situation von hoher Spannung zu setzen,
ebendann, so dieser Mensch bereits eine Ursprünglichkeit durch seine Nervosität
überdeckte, wasgleich aber nur den Ausdruck des Unelementaren, im nämlichen
die Erwartung bloßstellt. Oder dass aus einer schwierigen musikalischen
Perspektive eine plötzliche Stille gerade dem Hörer Angst vor etwas
Kommendem aufdrängt. In diesen Beispielen wird mitnichten eine subjektfreie
Ruhe angesprochen. Hingegen in der angstfreien und vergangenheitslosen Erwartung
ist die Ruhe das Wohl.
Jede akustische Information stört ihrem Wesen nach den Zustand der Ruhe.
Das Ereignis des Hörens bezieht notwendiger Weise eine Entfernung zur (als
Zustand des Unbefleckten) Ruhe ein, so diese der nach Wohlklängen suchenden
Empfindung des Hörers ein Gleichnis ist.
Ein Geräusch aktiviert einen Höreindruck, dieses bringt dem Bewusstsein
ein (nahes oder fernes) Wohlklangsempfinden, eine Entfernung zur elementaren
Ruhe.
Nicht jedoch ist unser Empfinden frei. Wahrlich, die Erfahrungen und besonders
die Erfahrungen der letzten Augenblicke, also der gerade gehörten Ereignisse,
verändern, entfremden den Einfluss auf unser Empfinden, sodass ein gleiches
Geräusch, welches aus dem Zustand der Ruhe ein angenehmes Gefühl dem
Gemüt bringt, aus einer musikalisch hektischen Situation heraus uns eher
unangenehm erscheint. Diese Überlegung aber dient an dieser Stelle keiner
Abstraktion, führt somit also am Wesen vorbei.
Was ist Musik ?
Wie das Wesen erfassen, wenn man nicht im Himmel thront?
Einzig mit Hilfe der Sprache und einer geschulten Logik ist die Möglichkeit,
mehr als nur Plausibilitätsbetrachtungen anzustellen, durch den Aufbau einer
Theorie gegeben, ein Modell zu errichten, so denn ein Verständnis der Einfühlsame
sich aufzubauen daraus imstande wäre. Eine Theorie steht für sich als
ein Gedankengebäude, nicht den Anspruch erhebend, das, was Wirklichkeit geheißen,
zu erklären. Immerhin schafft solche Projektion in hinreichend durchschaubaren
Strukturen, unter einer Vielzahl von Faktoren einige als wichtig definierend,
eine verständliche Parallele dem Betrachter als ein Arbeitsmittel zuzueignen.
Ein theoretischer Ansatz, der ja das Ursächlichste der Betrachtung zu
modellieren gewillt ist, kommt nicht umhin, nach den Grundgebilden und den elementaren
Einheiten zu fragen, denn einzig durch eine Festsetzung eines Niveaus von Ausgangsbausteinen
kann eine Theorie errichtet werden.
Problem 1: Was kann als musikalische Grundgebilde in Betracht gezogen werden?
Dieses Problem 1 birgt bereits ein anderes in sich: das Problem der atomistischen
Herangehensweise: Kann man durch eine Zerlegung der Musik in akustische Atome,
in unteilbare Quanten wirklich dem Wesen der/jeder Musik gerecht werden?
Gedankenbeispiel:
Es klinge eine Musik eines (von mehreren Sängern) gesungenen "ewigen"
Tones, ein im Ensemble erzeugtes Klangbild, welches eine Grundfrequenz beibehält
und nur auf die subjektive Klanggestaltung der einzelnen Chorsänger das
musikalische Geschehen beschränkt. Die Klanggestaltung füllt sich,
ohne melodische oder rhythmische Strukturen zu vollziehen, gleich einem figurlosen
Farbenspiel, gesungen etwa in einem der fernöstlichen Tempel zur Weihung
des ewigen Seins. Dieses Klangverhalten, jeder Hörer wird es zweifelsfrei
als Musik akzeptieren, passt scheinbar in keine Definition eines quantisiert
musikalischen Verlaufes. Hier versagt ein atomistischer Ansatz von Musikbestandteilen;
vielmehr siegt bei diesem Gedankenbeispiel der alte Feind allen Atomismus, der
Ansatz vom sprunglosen Kontinuum der Welt.
Die Musik des Abendlandes jedoch, und die weiteren Betrachtungen sollen es
als praktikabel erscheinen lassen, unterwirft sich gern und vielversprechend
der Idee einer quantisierten Welt:
Töne sind die Atome der Musik.
Der Ton
Definition 1: Ein Ton ist ein zeitlich begrenztes akustisches Signal, dem genau
eine (Grund-) Frequenz zugeordnet werden kann.
So stellt sich denn gleich das nächste Problem.
Problem 2: Welche Töne stehen zur Verfügung?
Hierzu zeigt sich eine übergreifende Erfahrung: Alle Musikkulturen, die
der Grundkonzeption des definierten Tones als Atom der Musik gerecht werden,
benützen stufenweis aufgebaute Tonmengen. Es gibt kein kontinuierliches
Spektrum von Tönen, sondern immer nur eine begrenzte Auswahl, so dass es
fest zu sagen ist: Töne gewisser Frequenzen gehören zur Auswahl, andere
nicht. Dieses aber bedeutet, dass ein solches Auswahlkriterium fixiert werden
muss.
Für eine solche Auswahl von Grundfrequenzen stehen aus unserer metaphysisch
belasteten Anschauung scheinbar genau drei prinzipielle Möglichkeiten zur
Verfügung.
Alle drei prinzipiellen Möglichkeiten der metaphysischen Begründung
der Tonauswahl beziehen sich auf die Obertonreihe.
Hinter der Obertonreihe verbirgt sich eine Grundfrequenz und in der Reihe jene
Frequenzen, die sich als natürlicher Teil der Grundfrequenz ergeben, also
die Hälfte der Grundfrequenz, ein Drittel, ein Viertel, ein Fünftel
etc.
Warum aber hat diese Obertonreihe solche absolutistische Stellung? Soweit sogar,
dass überall - so lehrt es ebenso die Erfahrung - eine Frequenzteilung
durch zwei - Oktave bezeichnet - sogar mit einer Tonidentifikation konform läuft.
Warum ist eine ganzzahlige Teilung von Längen, Flächen, Größen
o.ä. harmonischer als eine gebrochene Teilung? Dieses Wesen der Harmonie
der Musik entlehnt sie dem Wesen der Harmonie der Welt, als ein Bestandteil
von ihr, so dass diese Frage einer Arbeit über die Harmonie der Welt zugedacht
werden kann und an dieser Stelle unbesprochen bleibt.
Zurück zum Problem 2: Welche Töne trifft die Wahl?
1. Die (scheinbar) freie Wahl der Töne
Der Freiheitsbegriff steht hier natürlich nur für eine Bezugnahme
auf die Obertonreihe (ausgenommen der Oktave).
Gedankenbeispiel: Eine lineare Teilung der Oktave in z.B. fünf gleichlange
Intervalle, die keinem Obertonintervall entsprechen, bildet die musikalische
Grundlage jener Gamelanmusik, die zu entdecken und zu genießen erst den
Seeleuten in fernen, östlichen Gewässern vorbehalten bleibt, wenigstens
blieb. Eine instrumentale Musik von Glocken und bronzenen Becken: Diese Tonauswahl
überlässt dem Klang jedes einzelnen Instrumentes das Spiel mit den
Obertönen: als Klanggestaltung; zur musikalischen Fortschreitung aber benützt
es einen eigenen, sehr spezifischen Weg, zumal er, auf Grund der gleichen Intervalllängen,
dezentralen Charakters ist.
Eine lineare Teilung in sechs gleiche Intervalle entspräche der pythagoreischen
Reihe der Ganztöne.
2. Identifikation der Tonmenge mit der Obertonreihe bzw. eines Ausschnittes
Gedankenbeispiel: Eine Musik, die bei Festsetzung eines Grundtones nur dessen
Obertöne zulässt, ist zum Beispiel jenes heroische Erklingen der Fanfaren,
die weder Ventile noch Züge o.ä. zur Variation der Grundstimmung besitzen,
so dass dem Bläser eben nur die Obertöne der unveränderbaren
Grundstimmung zur Verfügung stehen, einem jeden hierzulande sicher wohlbekannt.
3. Induktive Wahl durch Auszeichnung eines oder einiger Obertonintervalle
Gedankenbeispiel: Es sei nicht mehr, wie schon besprochen, davon abgewichen,
dass eine Frequenzzweiteilung, die Oktave, in jedwedes musikalische System Aufnahme
fand; nebenbei hat dann gleich die Quinte (2/3 der Grundfrequenz) eine gewichtige
Rolle zu erfüllen, wie sich in einer Folge von vier Quinten gerade der
tonale Raum der Pentatonik aufspannt (Oktavierungen vorausgesetzt). Und es sei
gescholten, wer die pentatonische Musik trivial zu heißen wagt, immerhin
dass die Pekingoper auf dieser fußt. Zwar ist China auch heute noch für
den gewöhnlichen Europäer ein großes Geheimnis, doch sei bedacht:
Tsai Ju, der 1159 u.Z. die Differenz von zwölf Quinten zu sieben Oktaven
zu groß für eine Näherung empfand, eine Temperierung des Tonsystems
in zwölf gleichlange Intervalle, dementsprechend eine Gleichtemperierung
der Quinte vorschlug, um die chromatische Leiter dezentral anzustimmen.
Diese drei grundsätzlichen Varianten, an die Auswahl einer Tonmenge zu
gehen, aufgelistet, melden sich die Zweifler, die großen arabischen Gelehrten
al-Farabi, Avicenna oder Safiyn D-Din zitierend, die seien anders zur Fundamentierung
ihrer (arabischen) Tonalität gekommen:
Ausgegangen von den Obertonintervallen Oktave und Quinte, deren Differenz: die
Quarte und der Differenz von Quinte und Quarte: dem Ganzton sei von ihnen bei
der Erfassung eines tonalen Raumes - wohinter sich eine spektrale Aufteilung
der Quarte unter Verwendung des Ganztones verbarg - einige Intervalle: Limmas
(etwas weniger als ein Halbton), Dreivierteltöne, neutrale Terz (zwischen
kleiner und großer Terz) u.ä. rein rechnerisch konstruiert worden,
welche rein gar nichts mit der Obertonreihe zu tun hätten. Aber, so gilt
es zu erwidern, die grundsätzlichen Varianten schließen doch Kombinationen
dieser und die Einbeziehung noch anderer Konstruktionen nicht aus.
Stellung der Elemente
Einher mit der Frage, welche Töne, geht die nach deren Integration innerhalb
der Musik; sie Mittel sind, zu musizieren; also die Frage: wie sich die Elemente
zu Gebilden fügen.
Problem 3: Welche Bedeutung haben die einzelnen Töne im musikalischen
Geschehen?
Es sei an dieser Stelle ein Vorschlag erlaubt, der weder den Anspruch auf Vollständigkeit
erhebt noch den der Notwendigkeit einer solchen Kategorisierung, die ja künstlich
zu scheiden fordert, was gern gebunden bleibt.
Der Ton bzw. die Töne
1. - als Realisierung einer Klangvorstellung,
2. - als rhythmisches Gestaltungsmittel,
3. - als Teil einer polyphonen Klangstruktur,
4. - als Erfassung eines tonalen Raumes,
5. - als Potential einer melodischen Fortschreitung.
Der Weitgereiste wird für jede dieser Bedeutungen eine passende Erfahrung
einer nahen oder fernen Kultur des Musizierens anführen können, gleichso
der Phantasievolle sich je ein musikalisches Bild leicht vorzustellen vermag.
Welche Primärfunktion nun dem Ton bzw. den Tönen in jener Musik zukommt,
die unsere heißt, soll im weiteren das Interesse gehören, wie ansonsten
von den allgemeinen Betrachtungen nunmehr auf das Abendland es zu beschränken
gilt.
Doch erst wenn für das Unsrige aus dem historischen Ausgangsmaterial ein
Fundament sich fügt, kann eine Beantwortung von Problem 3 zu resümieren
sein, und es wird sich erweisen, dass unsere musikalische Erblast dem Melodischen
ein allgemeines Primat, hingegen aber dem Klanglichen, Rhythmischen, Polyphonen
und Tonalräumlichen eine untergeordnete Stellung zukommen lässt; ungeachtet
der Beispiele jener Besserwisser, die Gegenteiliges an Einzelfällen zu
bewahrheiten sich und anderen vorgaukeln, denn anhand von Beispielen lässt
sich nie das Wesen, sondern immer nur ein Mögliches erfassen.
Das melodische Prinzip im Abendland
Das Abendland ist nicht das Hier und Heute, genau so wenig wie sich die abendländische
Kultur auf ein Territorium und eine zeitliche Epoche beschränken ließe,
weniger aus dem Problem heraus, die Grenzen zu bezeichnen, als vielmehr die Frage
nach der kulturhistorischen Bedeutung des Begriffes Abendland zu wagen, welche
ja immer eine Verwurzelung eines Ortes in einer Zeit zu erkunden sucht. So sich
die heutige Musikkultur in Europa weit in die Geschichte hinein verankert hat,
gleich sie immer wieder sich opponierender und fremdländischer Musik zu stellen
gezwungen und gewillt war; es nämlich der Musikkultur hier und heute so ergeht
wie schon immer, diese zwischen zwei Ufern ihren Bug zu steuern hat: Ein klassisches
Erbe, das bedient zu werden verlangt, und die zeitgenössisch populäre
Musik, die als Quelle von Neuem und Fremdem wieder das klassische Erbe der nächsten
Generation beeinflusst.
Wenn also von Abendland einer zu sprechen oder schreiben anhebt, so immer nur
von dem derzeitigen Erbe unserer Ahnen, in allen Diskrepanzen und Ehrerbietungen.
Eine Quelle abendländischer Tradition, die uns Einfältige offen und
ungetrübt wie keine zweite scheint, ist das antike Griechentum, schon deshalb
von solcher Wichtigkeit, weil als unangefochtenes Ideal dieses Vorbild immer
wieder die Künstler Europas in Schach hielt. So soll dieses auch für
die Musik anzunehmen sein, obschon es heute nicht mehr nachzuvollziehen ist,
wie diese antike Musik tatsächlich klang; die Musizierpraxis generell liegt
weitestgehend im Dunkel. Theoretische Niederschriften von Zeitgenossen sind
zwar überliefert, jedoch entziehen sie sich unserem Verständnis, insofern
die Bedeutung der benützten Begriffe sich im Laufe der Zeit änderte.
Mit den ionischen, dorischen usw. Musizierweisen unterschied man generell den
Melos der gesungenen Musik, und tatsächlich hatte gerade der Gesang die
tragende Rolle im griechischen Musikleben, die Instrumente hauptsächlich
begleitende Funktion. Die pythagoreische Intervallberechnung (ausgehend von
den Obertönen und deren Abständen) hatte allenfalls auf die Stimmung
der Saiteninstrumente Einfluss - kaum oder nur sekundär auf den Gesangsvortrag.
Insofern ist die verbreitete Meinung nicht von der Hand zu weisen, die zeitgenössische
Musiktheorie im pythagoreischen Sinne sei praxisfremd gewesen.
Ungefähr nur können vage Vergleiche eine Näherung erlauben (den
Zweifel durchaus akzeptierend), wenn spätere Interpretationen bzw. musikalische
Nachfahren zu Hilfe genommen werden.
Erben antiken Materials können in drei Zweige simplifiziert werden:
1. Die spät- und posthellenische Tradition Osteuropas und Kleinasiens
(Byzanz)
Hierbei muss der Kontrast von heidnischer Musik und christlicher Musik der Ostkirche
berücksichtigt werden, der zur Folge hatte, dass nichtchristliche Musik,
also gerade die Musik, die direkter antiker Tradition war, an Bedeutung verlor.
Eine verlässliche Parallele dürfte eine Verwandtschaft des Instrumentariums
bis nach Transkaukasien zu Instrumenten aus alexandrinischer Zeit sein, was
eine annähernd gleiche Spielweise vermuten lässt. Der vorwiegend solistische
Einsatz bzw. der als einziges Begleitinstrument zum Gesang mit relativ schmaler
Mehrstimmigkeit zeigt überzeugend die ausschließlich melodische Funktion
dieser Musik.
2. Theoretische Erben. Damit sind jene gemeint, die sich überwiegend mit
dem Schrifttum der Griechen befassten; hierbei seien die großen Städte
des südlichen Mittelmeeres genannt, später vor allem auch die Araber.
Über deren musikalische Modelle zu berichten, verfällt ein jeder Europäer
leicht in die Verlegenheit, seiner eigenen Arroganz gegenüber zu stehen,
darum seien hier nur einige Begriffe aus der alten arabischen Literatur erwähnt:
So gab es a) kleinste melodische Prinzipien, b) Ausweitungen von melodischen
Prinzipien, c) durch Ornamentierungen oder Verzierungen Gewicht verliehene Strukturtöne,
d) Attraktionspunkte der Melodie durch zusätzlich eingefügte Töne...
Mehr noch als diese ausschließlich melodische Erklärungen berücksichtigende
Einheiten kann das Hören alter islamischer Musik zu einer einzigen Schlussfolgerung
verleiten: Der melodischen Bildung und tonalen Melodiephrasierung galt das Hauptaugenmerk
der Musiker.
3. Rom. Der Tetracord, dessen Umgestaltung bei Plutarch den Begriff "Tonos"
erhält, andere bezeichnen dessen Spanne als Teno, wieder andere definieren
die melodischen Einheiten innerhalb eines Tetracordes als Genera, soll angeblich,
so meinen die Alten, dem Modus der griechischen Musik äquivalent sein;
jene Modi meinend, die bei Platon u.a. als ionisch, dorisch usw. bezeichnet
werden. Hierbei geht es um ein Gerüst, welches den Melodieaufbau tonal
strukturiert. So stand auch im alten Rom, vornehmlich im heidnischen oder antiken,
die Formung von Melodien aus tonal-melodischen Einheiten im Mittelpunkt.
Vielmehr als solches verbietet sich, darüber Großes zu vermuten,
gar zu behaupten.
Wandel des Melodiemodells
Gerade in jenem Übergang von dem was wir als klassische Antike verstehen
zu seinen Erben - und denken wir, ein solches zu verstehen, wie wir sie gern sehen
möchten, denn wir, die späten Zöglinge, erfinden uns unsere Klassiker,
wie sie uns sein sollten - in diesem Übergang wandelte sich das Melodiemodell.
War es für die Zeitgenossen nur eine unscheinbare, so erkennt der Enkel die
Änderung als Revolution und meint die eigene Wertung:
Der Wandel des Melodiemodells von den Griechen über das römische Heidentum
zur frühchristlichen Musik des Abendlandes.
Die griechische Kunst als solche war zugleich Ziel der Kunst, ob es den Griechen
klar war oder ob es so sein musste, da all jene, die ihre Quelle ohne Tadel
wissen wollten, dieses forderten, wonach dann die griechische Kunst mit der
uns bekannten Makellosigkeit gekrönt zu werden gezwungen war. Die Musik
- ein Teil der Muse - lebte eine Ehe mit den vortragenden Künsten des Theaters,
der Poesie, des Tanzes. So war sie auch denen verpflichtet. Der melodiöse
Ablauf, beherrscht vom Gesang, die Instrumente dienten vornehmlich der Begleitung
oder übernahmen die Stimmführung; war das melodische Material geformt
wie dessen Textinhalt: bestimmt von der Logik der Nuancen.
In der ersten Etappe des Wandels des Melodiemodells emanzipierte sich in der
Zeit der römischen Expansion das instrumentale Spiel, die Instrumente wurden
mehrtonaler, die Anwendungen der Musik vielgestaltiger, auch das Instrumentarium
erweiterte sich. Fremde Instrumente wurden importiert, Musiker ferner Länder
bereicherten das Bild; jedoch die gesungene Musik, die dem Inhalt des Gesanges
Diener war, verlor ihre Macht.
Dieser Wandel ermöglichte sich, wie das Wesen eines Umschlagens immer eine
fliehende Elongation verlangt, durch jene Entwicklung der Musizierpraxis der
Römer, die sich dem Fall der Tragödie und dem Sieg der Zerstreuungssucht
gesellte, so sich namentlich darin der Wandel der Kunstprämisse feinsinniger
Stadtstaaten zu der des gierigen Imperiums verbirgt. Die Nachfrage nach Unterhaltungsmusik
formte einen Markt, jene lautstarke Institution, auf kurzlebige Nachfragen mit
Lärm und Geschwindigkeit Angebote zu erwidern, wodurch ein virtuoses Element,
sich dem Wettstreit gestellt, zu dominieren begann.
Der Musik widerfuhr das Schicksal gesellschaftlicher Funktionalität und
inhaltlicher Freiheit, es nämlich weniger darauf ankam, ein Anliegen zu
vertreten, als vielmehr einem Zwecke zu dienen, wo ein Anlass sich bot: ob nun
als Tafelmusik, zum Tanz oder als Zwischenmusik für andere Amüsements.
Die zweite Etappe des Wandels eines Melodiemodells gab der Musik einen klaren
inhaltlichen Rahmen, aus dem sie zur Zeit des heidnischen Roms zu fallen drohte,
der dann paradigmisch neugeschmiedet wurde. Mit der Vehemenz, mit der die christlichen
Gemeinden der ersten Jahrhunderte sich gegen das Heidnische ihrer Umgebung wandten,
um so mehr als sich das Christentum noch in der Position des Verfolgten befand,
eine Trennung von allem vertreten, was der Sünde zuträglich wäre;
mit dieser Kraft wurde die Musik - sonderlich die Musizierpraxis - um eine Verwendung
für gläubige Nazaräer gewogen.
Fast generelle Ablehnung erfuhr dabei das instrumentale Spiel, die heidnisch
wirren Exzesse der Instrumentalisten, eine Ablehnung, die dem Widerwillen gegen
die musikalisch ornamentierte Hurerei bei Festen, Gelagen und Orgien entsprang;
von der Ostkirche wird die Ablehnung noch bis in die heutigen Tage beibehalten:
die Virtuosität an die Kandare gelegt.
Unter dem Einfluss frühchristlicher Musik aus Syrien und Palästina
erhob sich der Chorgesang als ein der neuen Religion angemessener Rahmen, der
nicht Solisten Raum für überflüssige Spielereien bot, sondern
der Glaubensgemeinde eine Möglichkeit erschloss, zusammen musikalische
Bedürfnisse zu leben. Durch dieses, gerade die musikalischen Laien einbeziehende
Singen musste notgedrungen eine den Qualitäten der Ausführenden angemessene
Praxis verwandt werden, so dass ausgehend vom hohen Punkt der musikalischen
Spezifikationen in kaiserlich heidnischer Zeit eine Vereinfachung der musikalischen
Mittel in der frühchristlichen Musik zu verzeichnen war - sein musste,
was einem Chorgesang ohnehin entgegenkommt, der damit in der Realisierung der
Palmgesänge zur Gebetsform avancierte.
Die Vereinfachung der Mittel, wenig komplizierte melodische Phrasen, schmale
Verzierungen, begleitete die Forderung nach Textverständlichkeit der Musik,
die, Diener geworden, einem Buch, einem Text zur heiligen Basis verpflichtet
war, indem nunmehr auch ein Ursprungsgebilde für jene frühchristliche
Musik selektiert werden kann, im nämlichen dieses Gebäude in Europa
bis auf den heutigen Tag nicht mehr verlassen wurde.
Jene Isolation eines einzelnen Tones, frei im Raum stehend, ohne Ornamente,
ohne Phrasierungen, herausgelöst aus melodischen Floskeln, erhebt sich
als neue Qualität jener musikalischen Kultur, die beherrschende Metropole
für die europäische Kulturlandschaft der folgenden Jahrhunderte wird
und als Herrscher, nicht ohne Entwicklung und Kompromissbereitschaft, herrscht
und kämpft gegen Altes und Feindliches.
Postulat 1: Die Isolation eines einzelnen Tones.
(Ton als Auszeichnung einer Grundfrequenz)
Damit erhebt diese Periode den Ton zum Grundbaustein der abendländischen
Musik, womit der Melodiebegriff eine klare und strenge Fassung erhält,
so er ausschließlich isolierte Töne beinhaltet bzw. Phrasierungen
und Ornamentierungen immer als Fusion isolierter Töne aufzunehmen ermächtigt
ist.
Gedankenbeispiel: Die frühchristliche Musik der ersten Jahrhunderte muss
sich den Versuch gefallen lassen, und es gibt immerhin löbliche Ansätze,
die uns einigermaßen vertrauenerweckend eine Vorstellung zu geben versuchen,
diese Musizierpraxis durch Sänger unserer Tage im originalen Singsang wiederholen
zu lassen. Eine Ratifizierung des Postulates 1 könnte für eine Vorgregorianik
nie zweifelsfrei bewiesen werden, entsprechende Versuche sind wenig stichhaltig.
Mehr als diese jedoch ist die Gregorianik, seit 600 u.Z. dem Anschein nach in
unmodifizierter Form an die Nachfolger übergeben, gelehrt und ausgeführt,
einem jedem bekannt, mindestens als Quelle beliebt und als unanfechtbar angenehm
klassifiziert. Diese gregorianischen Gesänge vermitteln eine Ahnung dieser
bedingungslosen Klarheit, mit der nicht nur die Religion das Abendland, sondern
auch die Isolation des Tones die Musik missionarisierte.
Mit jener Isolation aber überkommt den einzelnen Ton eine Verantwortung,
der er, nun allein stehend, sich rechtfertigen muss, ein einzeln stehender Ton
als kleinste melodische Einheit, und nunmehr, ohne Bedingungen daran zu knüpfen,
die Musik in Melodien formiert.
Verstünde man jedoch eine Melodie nur als Hintereinander von Tönen,
vergäße man eines der wichtigsten Elemente: die Ruhe, die in einer
Melodie als Pause zutage tritt. Bilden Töne in ihrer Aufeinanderfolge eine
Melodie, so muss sich definitiv die Pause als Äußerung des Ruhetones
zu den möglichen Tönen gesellen.
Definition 1: Eine Melodie ist eine stetige, zeitliche Abfolge von Tönen
oder/und Pausen.
Notation des Guido von Arezzo
Mit der klaren Festlegung eines Melodiemodells und der voraussetzenden Isolation
des einzelnen Tones löst sich nunmehr auch das Problem der Notation, welches
uns bis zum Zeitpunkt der Herausbildung der frühchristlichen Musik, die ja
das Melodiemodell erst ermöglichte, das heutige Unverständnis alter
Aufzeichnungen von Musikwerken aus vorchristlicher Zeit erklären mag, es
schon lange Tabulaturen gab, die den Zeitgenossen wohl verständlich waren,
uns heutigen Neugierigen aber verborgen bleiben sollen, da keiner ist, der uns
die Tabulaturen interpretiert. Anders nun kann sich dieses verhalten, wenn die
Notation unabhängig von Interpretationen, wenn Noten eine neutrale Symbolik
bekommen. Genau dieses aber bedurfte des Postulates 1, so dass die Geschlechtslosigkeit
der Bausteine Noten ein System ermöglicht, einer graphischen Verarbeitung
umkehrbar eindeutig zu entsprechen.
Als Papst Gregor um 600 u.Z. die Kirchentöne festlegte, vereinheitlichte
er damit auch die Auswahl der Töne, was ohnehin nicht verwunderlich erscheint,
eine solche Strenge dem Glaubenssatz der Strenge zur Religion parallel anmutet.
Die einheitliche Tonwahl zog sich in einer bisher wahrscheinlich beispiellosen
Ausbreitung überall dorthin, wo die West- und in analoger Weise auch die
Ostkirche predigte. So war nicht nur eine Tonklarheit, sondern auch eine Strenge
in der Wahl der Töne und mehr noch: eine Einheitlichkeit der Tonwahl neue
Qualität der abendländischen Musik. An diesem Punkt angelangt, macht
sich eine Notation von eben gleichen Vorzügen der Strenge und Einheitlichkeit,
die Klarheit zugesellt, sinnvoll, was nicht auch heißt, dass die Neutralität
der Vorzüge in ihrem geschlechtslosen Sein auch der Beschimpfung einer Verarmung
sich zu erwehren gezwungen ist.
Als Guido von Arezzo um 1050 u.Z. die Grundlagen der Liniennotation, die nach
1200 etwa die heutige Form annahm, schuf, fußte er bereits auf wenigstens
hundertfünfzigjährige ähnliche Notationsversuche: nicht mehr melodische
Elemente, sondern isolierte Töne zu erfassen.
So einfach uns auch das Prinzip des Guido von Arezzo (und er muss eigentlich nur
stellvertretend für viele seinen Namen hergeben) heute erscheint: Wie lange
dauert ein Ton und welcher folgt, so verborgen war dieses Prinzip in der allzu
schweren Last der Vergangenheit, die zu rufen scheint: Alles bleibt, wie es war.
Rhythmus
Es darf nicht gespart werden an der Bemerkung, dass die hier entwickelten Aussagen
wohl für die abendländische Musikkultur ihre Gültigkeit behaupten,
aber niemals allgemein für die Musik formuliert werden dürfen, ja
nicht einmal eine Parallele zu fremdartigen Musikkulturen zulassen, da jeder
Ansatz dieser Ausführungen einer globalen Voraussetzung widerspricht, vielmehr
immer eingeschränkt auf jene Situationen sich bezieht, welche die Musik
im europäischen, oder wie es präziser heißt: im abendländischen,
auszeichnen.
Solches betrifft insbesondere die Hierarchie der einzelnen Geflechte, die im
abendländischen Falle der Herrschaft der Melodie sich beugen muss, welches
besonders schmerzlich den Rhythmus zu treffen scheint. Dass eben der Rhythmus
sich der Melodie versklaven sollte, wenn schon nicht tyrannisch, so doch immerhin
in der Stellung einer Minderheitsbedeutung, haftet noch in den heutigen Tagen
schwer wie Blei an den Füßen der europäischen, mindestens der
mittel- und nordeuropäischen Musiker, wenn sie an dieser Last hinkend auf
andere Musiker der Welt blicken.
Schon jene Postulierung, die der abendländischen Musik die Konkretion einzelner
Töne diktiert, oktroyiert einer rhythmischen Struktur immer eine Ausführung,
die primär einem definierten Tonraum gehorchen muss.
Tonart
Mit der Festlegung der Kirchentöne entstand der gregorianische Tetracord.
Dieser gregorianische Tetracord, der mit seiner Entstehung das Wesen beibehielt:
Aufhebung im nämlichen der melodischen Zählweise, womit jene beschreibenden
Einheiten nun der Basis beraubt, die der rühmenden Vergänglichkeit
dieser Kunst fronte, in das historische Abseits der Musik verdrängte, den
Modi entmachtete, dabei jedoch selbst nur ein instabiles Gerüst besaß,
das sich als Valenz zwischen den Ebenen geschlossener Traditionen befindet.
So erzwang sich eine musikalische Situation neue Gleichgewichte, die sie bekommen
sollte, indem sich der aufhebende gregorianische Tetracord aufheben musste.
Dergestalt, dass aus der Auswahl der Kirchentöne nun die Kirchentonarten
erwuchsen, mit ihr die Umgestaltung der Modi zum Motiv als die melodische Einheit
der Töne einer Tonart, die eine freiere, wenngleich beengtere melodiöse
Beschreibung durch elementare Melodieeinheiten der einzelnen Töne gewährleistet:
die Anordnung der isolierten Töne in einem fixierten System.
Definition 2: Eine Tonart ist eine geordnete Auswahl von Tönen.
Theorem 1: Motive und Themen als melodische Einheiten bezüglich einer
Tonart sind die ursächlichen Elemente der kontrapunktischen Analyse.
Legt eine Tonart nun eine hierarchische Ordnung in der Tonauswahl fest, so
stellt das Motiv (das Thema als dem Motiv übergeordnet auf seine Weise)
nun die Einbettung der Melodie in die Tonart dar, was einer tonalen Interpretation
der Melodieteile entspricht. Gerade das ist aber Ausgangspunkt einer jeden kontrapunktischen
Herangehensweise.
Kirchentonarten
Jenes, welches heutige Studenten eifrig als das Alte der Tonarten mit dem Begriff
Kirchentonarten zu bezeichnen lernen, meint es doch die ersten etablierten Tonarten,
die dem Theorem 1 zur Durchsetzung verhalfen, konnte ebenso wenig wie das Theorem
1 aus einer Idee entspringen; vielmehr entsprossen diese Kirchentonarten einem
Geschehen. Diesen Prozess nachzuvollziehen, ohnehin nur im Gedächtnis möglich,
fordert den Vorschlag als liberale Alternative zum Diktat dessen, was sich Wahrheit
dünkt, immerhin versagt bei solchen Dingen, die von Nachgeborenen interpretiert
werden:
Je einfacher die folgliche Erklärung, desto plausibler der Ansatz.
Herausbildung der Kirchentonarten:
Vorschlag 1: < Kombination zweier Tetracorde in Folge >
Wenn Tetracorde vierstufige Leitern von "Ganz- und Halbtonschritten"
sind, so erweisen sich bei Intonationsnäherungen die Kirchentonarten, Folgen
von Ganz- und Halbtonschritten, als zusammengesetzte Tetracorde.
Vorschlag 2: < Auszeichnung einer einheitlichen Orgeltabulatur >
Ab 800 u.Z. erhob sich die Orgel zum gottesdienstlichen Instrument, oder erhoben
sie wenigstens die orgelbauenden Mönche, wiederum nur Westeuropa anbelangend,
welches mehr als nur instrumentale Folgen hatte. Erheblichen Einfluss nahm dieses
Geschehen auf die Entwicklung der Notenschrift, genauer auf die Sonderungen
über den vielen Möglichkeiten, dass nämlich die Orgeltabulatur
zur Notation nicht nur für Orgelinstrumente wurde, damit sich über
Gesangesnotationen und Tabulaturen anderer Instrumente, namentlich Lautentabulaturen
hervortat, zum Standard von den Musikern erkoren ward. Die Stimmung der Orgelpfeifen
beruhte auf der guten Tradition (Mönche führen so etwas gern) der
Harmoniker, die musikalisch im Erbe Pythagoras' und Euklids die Oktave mit der
Prime identifizierten, die Quinte vor den anderen Intervallen auszeichneten,
um der Quinte die Basis der Orgelstimmung zu überlassen.
Die Menge der Töne im Quintabstand, oktaviert in die Grundoktave, ist bei
Beschränkung der Sieben identisch mit einer Kirchentonart gemäß
ihrer Anfangsetzung.
Vorschlag 3: < Quintbenachbarte Dreistimmigkeit >
Wenn an dieser Stelle das Prinzip der quintbenachbarten Dreistimmigkeit Erwähnung
findet, so bedeutet dieses einen Vorgriff auf die Emanzipation der harmonischen
Polyphonie, die sich zwischen 1000 und 1200 entwickelte und mit den ersten großen
Namen der Kompositionskunst verbunden wird. Als Vorschlag für eine Herausbildung
der Kirchentonarten dient es eher einer historischen Gebietstreue, die sich
in der Polyphonie der wohlklingenden Akkorde hält und das Tonpotential
der Kirchentonarten auch in der Dreiklangsmusik sichert.
Die Menge der Töne einer Kirchentonart ist identisch mit der Menge der
Töne dreier quintbenachbarter Durakkorde oder dreier quintbenachbarter
Mollakkorde.
Polyphonie
Mehrstimmigkeit existiert bereits beim zufälligen Zusammentreffen zweier
Instrumente. Dieses soll aber überhaupt keine Erwähnung finden, vielmehr
nur jene Weise einer Polyphonie, die den Gesetzen irgendeiner Harmonik sich
verpflichtet fühlt, somit jede Art von Zufälligkeit mehrerer Stimmen
ausschließt, nur solche Zusammenklänge gewährt, die einem strengen
Gerüst harmonischer Gesetzmäßigkeiten, welcher Quelle sie auch
sein mögen, Genüge tut.
Im Abendländischen versteht man unter einer Polyphonie jene Musik, aus
einzelnen Stimmen bestehend, wohlgemerkt aus Stimmen, die in ihrer Fügung
isoliert sind, was, wie bereits hervorgehoben, den Grund finden kann in der
eigenständigen Berechtigung einer Stimme als Wertigkeit einer Melodie,
der Grundsubstanz abendländischen Musizierens. So ist denn definitiv eine
Mehrstimmigkeit auf den Melodiebegriff zurückzuführen, eine Mehrstimmigkeit
eben als Zusammenklang verschiedener Melodien anzusehen.
Ausschließt dieses zum Beispiel einen Chorgesang, in dem alle Chorsänger
die gleiche Melodie singen; dieses als Polyphonie zu bezeichnen - es bliebe
Monophonie.
Oder gar Musiken, deren Stimmen nicht als Melodien an den Tag treten, was nicht
selten in einer geräuschvoll rhythmischen Musik (etwa zu Trommeln oder
Pauken) sich so verhält. Den abendländischen Prinzipien entspricht
diese nicht, was aus Postulat 1 und der Melodiedefinition deutlich wird, was
auf keinen Fall solche Musik geringschätzen will, eher die abendländische
Musik der Enge bezichtigt.
Der abendländische Polyphoniebegriff verlangt konsequent einen Zusammenklang
verschiedener Melodien, wozu es nun aber eines neuen Grundbegriffes bedarf,
denn eine Melodie ist zwar das Nacheinander von Tönen, die ihre kontrapunktischen
Erklärungen in den Tonarten finden, jedoch versagen kontrapunktische Erklärungen
als Beschreibungsmodelle für ein Nebeneinander.
Definition 3: Ein Akkord ist eine vertikale Auflistung von Tönen.
Bezeichnend und diese Kultur charakterisierend ist die Unterordnung der Vertikalen
unter die Horizontale, dass ein Akkord die Töne vertikal zuordnet, dieses
aber erst vermag, nachdem dieselben Töne bereits Platz in einer Tonart
fanden.
Zweistimmige Musik im genannten Sinne, hier ist die klassische Harmonik Pate,
die weit über das Musikalisch-Akustische hinausgeht, eher als Weltordnung
sich versteht, wurde im 9. Jhd. auf der Orgel nachweisbar, das heißt in
Notationen der Nachwelt überlassen, praktiziert, im 10. Jhd. durch den
Gesang.
Die historische Unterordnung der Polyphonie unter das Melodische, was sich logisch
aus dem Charakteristikum 1 ableitet, sich freilich nicht im isolierten Werk,
vielmehr aber in der Mannigfaltigkeit der Werke mittelalterlicher Kompositionen
deutlich zeigt, gebar aus dem Joch des melodiösen Ablaufs über jeder
harmonischen Struktur eben diese strenge Ordnung der Zweistimmigkeit, jener
neuartigen Qualität zweistimmigen Musizierens, die phänomenologisch
an viel früherer Stelle hätte eine Erscheinung verlangen können,
sich verdrängen ließ, nunmehr aber machtvoll sich etablierte: Zweistimmigkeit,
die nicht ein Zusammenklingen freien Spiels von Instrumenten meint, sondern
eine Planung des Zusammenklingens, wasgleich der Komposition den Stellenwert
verleiht, der Improvisation die Zufälligkeit vorwerfen zu dürfen.