Bruder Ahasver |
Rainer Nowotny |
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1. Kapitel
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Jede Nacht geht schwanger mit ihrem Morgen,
jede Morgenröte gebiert den Tod ihr.
Geht die Nacht und sieht den Morgen eintreten,
durch das Tor
Vergänglichkeit und Wiederkehr.
Gleiches muss dem
neuen Tage widerfahren, der dennoch furchtlos sich beeilen wird - dem Ende hin.
Der Tag ist der Vergänglichkeit ein Gleichnis, in seinem Kommen schon und
auch in seinem Schwinden, verheißt den Drang, vernichten zu müssen,
die Nacht durch ihre schönste Stunde und sich selbst alsbald. Doch ach
wie trügerisch, er ist nicht da: Erscheinung nur der größeren
Macht, die unfassbar bleibt, betrügt die Einfalt jenen Geist, der Tag sei
dingbar sterblich, doch ohne jede Substanz. Sterben kann er nicht und nicht
verwesen, verschont bleibt ihm die Agonie.
Die noch Schlaftrunkenen besteigen den Weg in das Tagwerk, den Weg, der sich
ihres Tages annimmt, besteigen ihn ungeachtet ihrer staubigen Schuhe, mit denen
sie ihn treten, ihren Weg, ungeachtet seiner, keinen Blick würdigend, jene
Müden, die sonst nicht versäumen, allen Dingen Attribute aufzwingen;
ihn hingegen können sie nicht ergreifen und drücken sich also um die
Beschreibung.
Was ist es, das uns des Gehens zwingt?
Seht ihr Trägen diese Wege und ihr wisst, es sind nicht unveränderliche,
und ihr wisst auch, dass es der Wege Ende nicht gibt. Den Pfad gegangen, ist er
ein anderer bereits, und doch ist dieser Wandel der Ursache so fremd, denn der
Wanderer macht erst den Weg, und der Weg macht erst den Wanderer, und in der
Wirkung ist es, dass auf diesem Gang durch den Tag der Wanderer bar des Stehens
und bar des Bleibens gehen muss: Es ruft den Läufer auf seine Straße:
An der Peripherie ist nicht zu bleiben! Verheißungsvoll ist das Kreisen
in den Winden, doch verlangt es ins Zentrum das Sein. Weg des Sammelns aller
Zerstreuungen, mühsam ist diese Notwendigkeit.
Es käme der Ungesuchte von irgendwoher in die Ebene. Ginge in Richtung Vorgebirge,
nur um zu laufen, hofft schon lange nicht mehr, etwas zu suchen. Sieht -
doch erfährt nichts - ohne Richtung, ohne Ziel.
So spricht er:
"Jahre hindurch habe ich geschunden meine Knochen, auf unzähligen
Strecken ließ ich keine Ruhe meinen Nächten, getragen von der Angst,
versäumen zu können, und wahrlich, nichts, was den Menschen nahen
konnte, blieb verborgen meinem eiligen Drängen. Doch kostete dies alles
viel Kraft meinem Körper und kostete die Unbeschwerlichkeit meinem Geist.
So wurde ich lange vor dem Greisenfieber schon gezwungen zur Vernunft - fing
mich schon ein, so wie von ohngefähr, was erst den Großvätern
man grinsend zugesteht."
Das Wandern in den offenen, in den verborgenen Welten, gelebte Zeiten sind dem
Jungen wie dem Alten. Daher fällt die Anzahl der Jahre in die Bedeutungslosigkeit
der Vergleiche. War der Pfad gewunden, viele Kehren hinauf, die Neigungen und
Steigungen der Bahn von den Bergen des Schönen und Musischen bis in das
Meer des Abstrakten, von den heißen Wüsten der Poesie bis in die
Eiswelt der Mechanik, vorbei an der Grenze der Sprache. Zwischen Wahrheiten
und Nichtigkeiten; was sind Worte?
Es gibt der Strebende den Begierlichkeiten schmeichelnd Namen, billige Prädikate,
um sich deren Besitz zu sichern, die namengefesselten Dinge in gute und schlechte
Fächer zu verbannen. Was er fürchtet, benennt der Feigling heimlich
und verstellt die Stimme, wenn die Rede darauf kommt.
Sie nennen ihn: Ahasver, der nicht sterben kann.
Jene, die ihn fliehen, ihn suchen.
Jene, die ihn fürchten, ihn bewundern.
Jene, die ihn mit Füßen treten, ihn achten.
Ahnt schon um die Gegenwärtigkeit des Schicksals? Spürender Zwang
um das Gehen. Am Bleiben hindert das Sein, doch größer und größer
wird der Wunsch danach.
Der Baum bittet den Vogel zu verweilen, dieser aber muss in den Süden,
bittet der Vogel den Baum ihm zu folgen? Wie soll er sich entwurzeln? Nur zwei
Schwalben können beieinander bleiben, ohne zu verweilen.
Ein Samenkorn wird Halm und Strauch und Baum. Das Geschehen braucht kein Maß
für die Zeit. Der Beobachter hingegen braucht die Minuten und Stunden,
denn er langweilt sich beim Zusehen.
Die Zeit, Entfernung zwischen Idee und Handlung, das Denken erzeugt sie sich. Von
Menschenhand ersonnene Uhr, Tochter der Angst, geduldig hingegangen wäre
es ein ruhiges Fügen. Ohne Eile falten sich Gesteinsschichten zum Gebirge;
immer höher, bis sie vom Gletscher eingeschläfert werden.
Setze sich der Erschöpfte auf einen umgestoßenen Baum, um sich ein
wenig die Ermüdung gestehen zu wollen; doch noch bevor sich seine Augen
schließen können, dröhnt es aus einer schrecklich bekannten
Richtung zum Befehl: "Ahasver Geh!" Was hilft die Frage nach einem
Warum, wenn das Müssen ohnehin Sieger bleibt; das Woher nirgendwo, das
Wohin vielerorts.
Überall kennt der Sand schon seinen Abdruck - nur im heiligen Bezirk war
er nie, denn Gottes Kinder gieren nach dem heiligen Land, und da es alle tun,
kann dieses Gieren nur in Kriegen münden, es ist keine Lösung möglich.
So war er immer schon hier, wo er jetzt noch rennt. Und einerlei ist es, da
an allen Orten das Gleiche geschieht; im Nachbarland wie auf dem fernen Kontinent
durchlebt der Mensch das gleiche Alter. Welchen Sinn ergibt das ruhelose Wandern;
die Menschen brauchen dieses Märchen. Wie die Glieder eines Tieres sind
die Äste der Gemeinschaft aufeinander ausgerichtet; der einzelne Wille
bleibt niederer Ausführer, und Taten sind letztendlich doch
nur unterworfene Momente im Getriebe; der einzelne Wille ist Befehlsempfänger:
denn welche Geringfügigkeit hat der Lichtpunkt unter den Sternen am Nachthimmel?
Wie wenig ist das eigene Leben?
Wie verliert sich das Lebensintervall in der übermächtigen Dauer der
Ewigkeit? Und was bleibt dann nach dem Tod? Der größte Ruhm verschwindet;
all die Taten, für die der Mensch sich plagt, all die Träume, die
den Mühenden tragen: nichts bleibt. Die fernen Sonnen wandern so langsam,
unendlich ist ihr Sein - gemessen an der Generation eines Greises. Darin verwesen
alle heroischen Nichtigkeiten. Das Vergessen eilt, Wettläufer mit dem Wind.
Ihn zöge es, von einer unnennbaren Macht gescheucht, weiter, immer weiter:
in den Norden, bis dorthin wo das Jahr nur einen Tag hat; kommend vom Süden,
wo das Jahr nur am Mond zu messen ist. Ins Hochgebirge zöge es ihn,
getrieben von unbekannter Mahnung, mit unsichtbarer Hand kommandiert. Nichts
was dort auf ihn warten würde, er fügt sich. Es dröhnt ihm überall:
"Ahasver Geh!"
Wie brennen die Fersen hinauf. Die festen Stiefel, die
ermüden, der Tritt wird unsicher unterm Geröll, der Blick zur Seite
in eine tiefe Schlucht. Den Brand an den Sohlen merkt er nur, wenn am Abend
er die Stiefel von den Füßen sich zieht, und geschwollen atmen seine
Träger auf, zu ruhen eine Nacht, die kurz ist, um abschwellen zu können.
Wissen die treuen Stützen der Menschen, dass am nächsten Morgen sie
wieder in die Enge gleiten müssen, den Körper zu schleppen, wieder
bleiern die Beine machen übers gefühllose Bruchwerk, wo der Wind rau.
So eisig auch die Winde heulen, so unbarmherzig das Eis auch die Kämme
vor Eindringlingen zu bewahren sucht, die wenigen friedlichen Tage sind in der
rohen Bergwelt noch viel schöner als in den gemäßigten Ebenen.
Dort auf den weißen Gipfeln gießt die Sonne wirkliche Wärme
über den Schnee. Nur wegen dieser wenigen Stunden verlangen erleuchtete
Männer nach diesen Strapazen. Das ist die Macht der Höhen, zwingen
zu Besinnung und Ehrfurcht, denn sie sind dem Himmel näher. Den Menschen
und ihren Städten aber sind sie ferner.
Nah rückt alles Leben zusammen, wo wenig Lebendes sich retten kann. Jäger
und Beute werden Freunde, wenn sie sich auch fressen. Anders als in den verwöhnten
Tälern, in denen es eine Zier ist, vom fremden Tier kein Blut zu vergießen,
um in eine milde Arroganz gegen die Kreaturen zu gelangen, sodass man in den
Kriechenden die eigenen Ahnen zu sehen beginnt.
Der Pass über den Gebirgskamm ist nicht für den Berg, er ist für die Bezwinger gefunden. Und weil der Pass da ist,
müsse er hinüber. Dem Auf der Bergwelt folgt ein Herunter. So stiege er
wieder herab in ein Vorgebirge, lasse ab von der Felsen Enge, von befreundeten
Pfaden, wo jede Schlucht wie ein Burgwall vor Feinden schützt, wo mühsam
die Füße den Meter erkämpfen, wo die Gewalten beschwerlich machen
den Steig. Hinab in die ungeschützte Geschwindigkeit: Im flachen Lande
können schneller werden die Schritte. Doch werden kaum geschwinder die
Gedanken, nur weil die Strecken rascher sich fügen.
Immer öfter begegnen sich Wandernde, immer flüchtiger wird ihr Gruß,
immer ungleicher, die aneinander vorüber hetzen. Wo treffen jetzt sich
noch Gleiche? Können Gleiche sich treffen?
Verzweifelt klebt der Fragende an den Lippen, von denen er Antworten erhofft.
Wozu ist das Lebendigsein hienieden? Da Lebendige sind, müssen sie sich
bewegen, doch wozu? Warum ist einem Wesen das Dasein? Dem Mann giert der Sinn,
Kinder zu zeugen - dem Weib, Kinder zu gebären, alle tun ihr gleiches,
um zu fressen und zu saufen, den Geist zu zerstreuen, an gedeckten Tischen,
im Schwitzbad, in warmen Kissen und in kleinen Freuden?
Und wenn das Licht nur dafür strahlte, dass sich zwei Treffende erkennen.
Erwidert der ruhigere von beiden: Ist der Mensch des Lebens müde, der reichlich
gekostet von den billigen Freuden, um so mehr giert er dann nach einem Ziel.
Wo denn sind Ziele anderenorts, als im priesterlichen Versprechen, träumende
Verlockung der Religion; doch dem Lebensreifen ist das Priesterleben allzu unreif.
Warum wächst der Baum zum Riesen? Nur dass aus seinem Samen wieder ein
Holzwerk nach oben strebt? Wer achtet noch den Sinn des Kreises? Wenn der Unruhige
auch nach den wahren Gesetzen forscht, ein höherer Zweck muss ihm verborgen
bleiben.
Spräche ein Hinzukommender ihn an:
"Lass mich erfahren, wie es sich in dir erhob nach all den Wanderungen,
du, den wir wissend wähnen in der Welt, sag: was ist das Widerstück
der Wahrheit?"
Ahasver setze den Stab und spräche:
"Einige strecken den Irrtum, andere die Lüge wider die Wahrheit. Doch
höre: Obschon ich weiß, dass für die Wege des Erfahrens und
desto klarer noch für die des Wissens es keinen kürzeren gibt als
denjenigen, den man nicht anders schreiten kann: Weder Irrtum noch Lüge
lassen sich verkehren in Wahrheit. Beides ist Dichtung. Einzig der Zweifel lässt
sich mit Geschick zur Wahrheit fälschen. Denn Wahrheit ist eine Eigenart
mit der ein Erfahrener seine Erkenntnis betrügt."
So flehe der Eine dem Anderen:
"Lass mich dir folgen, denn mein Gehen ist wie dein Suchen, denn mein Kommen
ist wie deine Furcht, denn mein Schauen ist wie dein Fragen!"
Der Pilgernde versänke in abwesendes Überblicken. Wenn er dann weiter zöge,
begriffe der Hinzugekommene bitter seine Überschätzung und bliebe
zurück.
Er muss weiter und immer weiter wandeln zwischen den Menschen, weiter und nur durch niedere Weisung getrieben,
nicht verwurzeln, um einem alten Fluch genüge zu tun.
Erlöst sich die Geburtenqual in die universale Nichtung?
Findet alter Platz noch eine Zerstörung im neuen Frieden in gleichen Mänteln
wie zuvor?
Seinen Körper verschlang einst die Flut, da warf das Meer ihn selbst ans
Ufer zurück; sein Suchen aber sank in die verschlossene Tiefe.
Einst zog ihn herab die Schlucht, da hielt eine Baumkrone den Fallenden; seine
Furcht aber zerschellte am Fels.
Einst zündete ein Soldat seine Waffe gegen ihn, da war's, als ob das Geschoss
an seinem Knochen abprallte; sein Fragen aber wurde vom Blei noch zerschmettert.
"Ach Bruder:
So ist mein Gehen ohne Suchen.
So ist mein Kommen ohne Furcht.
So ist mein Schauen ohne Fragen."
Spricht Ahasver und geht hinfort.
2. Kapitel
|
Sicher gab es auch für einen Ewigen eine Kindheit; doch alles was da folgte
an Getanem bis zum Jetzt wob Schleier für Schleier über das Vergangene,
denn vieles getat sich für einen Wegelagerer, sodass er die Erinnerung
an seine jungen Jahre nicht frischen konnte. Nun aber schleppen sich die Tage
und füllen sich zu Jahren, zu Generationen, noch immer tönt es in
gleicher Weise dem Greisenhaften zum steten Weitergehen, nicht wissend ein Wohin,
das Privileg, welches schon längst ein jedes Ziel verlor. Es wird der Stein
bewegt; nur wer sich immer wieder zerstört, kann weiterkommen.
So führt sein Gang zu Menschen, führt von ihnen, sie nicht suchend,
sie nicht fliehend.
Er ginge gegen das Licht der morgendlichen Sonne, käme in den Flecken der trockenen
Berge, dort wo man die Dualisten heimisch heißt, die reden, wie in Allem
zum gleichem Maß der Tag und auch die Nacht geborgen sei, so wie Tat und
Hingabe ineinander fechten. Zwei um ein Feuer Streitende, zu denen er träte,
bemerken seiner nicht, denn Fremde sind nur fremd, wenn man um Fremde weiß.
Da spräche der erste:
"Wenn zwei Gleichmächtigkeiten in ihrer Unvereinbarkeit im alles umfassenden
Zwist liegen, muss der Krieg allgegenwärtig sein. Wenn zwei Gegensätzlichkeiten
ohne einander nicht existieren können, müssen sie für den außen
Stehenden als Einheit scheinen, dass für ein Außen also Friede ist.
Wenn Friede und Krieg aber in gleichmächtigem, unversöhnlichen Gegensatz
stehen, muss Krieg und Friede zwischen dem Friede und dem Krieg in gleichmächtiger
Weise sein, und also der Friede im Krieg mit dem Kriege, und der Krieg mit dem
Friede als untrennbare Einheit und also im Friede sein."
Da erblicken sie doch Ahasver. Dem Gehenden rufen sie nach:
"Wenn Tod und Leben polare Gegensätze sind, so bekenne dich zum Leben
und du wirst dich mit dem Tod vereinen können!"
Wenn er irgendwoher kam, muss er weiter in die gleiche Richtung oder umkehren,
es bleibt einerlei, der Himmel ist überall derselbe. Ohne dass es ein Gleichnis
gäbe, folge er nun dem Sonnenlauf, dem er zuvor entgegen strebte.
Am siebenten Tage des Marsches vom Osten erstrecke sich ein blühendes Tal,
es sei aber gerade das Sonnenfest, sodass alles was jung und schön ist,
tanze und singe. An einem stillen Orte jenseits der Fröhlichkeit wären dunkle
Mauern, errichtet schon vor etlichen Zeiten, dahinter sich Männer vergruben,
die dem Gehenden verbunden sich fühlen, ihn also einlassen.
"Warum verbergt ihr euch im Dunkel, wo unweit Helle und Fröhlichkeit?"
Sie aber antworten:
"Derjenige, der überall schon Dunkel sah, fragt uns? Doch sieh! Es
gibt noch das Dunkel, und so wollen wir fragen und nicht aufhören zu fragen,
bis wir mit Antworten alles Dunkel erhellt haben."
"Wer glaubt wohl den Stein allen Wissens finden zu wollen? Und sucht ihn
im Dunkel, um sein Leuchten nicht zu verfehlen. Und weiß nicht, dass er
bereits im Hellen ist."
"Wer wandert zwischen Hell und Dunkel. Wie soll er im Hellen zu finden
sein, wenn er leuchtet und das Helle ohnehin ist, und also ohne Sinn er sein
Leuchten verschwendet?"
So fragen sie.
"Wie wollt ihr sagen, wenn die Sonne am Abend hinter den Wald sinkt, ob
sie dass Helle mitnimmt oder ob das Dunkel die Sonne bezwingt? Ziehen oder Drängen?"
Sie säßen drei Stunden schweigend sich gegenüber, bis der Gehende klares
Wasser statt einer Antwort in Gläser gieße und jedem davon gäbe, worauf
er sich schweigend entferne. Die Männer sähen ihm, Antwort erhalten habend,
nach. Es ist schmeichelnd unter Fragenden; es ist traurig unter Nichtfragenden;
beides ermüdet.
Einen Tag lang teilen Musikanten ihr Los mit ihm; wie fremd sie sich
auch sind und bleiben, brüderlich ist ihnen die Abneigung gegen alle Glotzer,
anspruchslose Frister der Lebensjahre. Wie selten sind Erinnerungen an gute
Stunden. Einer von ihnen gesteht:
"Hören wollen die Menschen nur zur Belustigung und wissen nicht um
die Kraft und die Durchdringung der Musik. Doch für Brot geigen wir dem
Volk einen Tanz."
Weil doch der mittelmäßige Geist sich nur in Mittelmäßigkeit
zuhause fühlt und dort seinen Platz sich sucht, warum aber sind sie der
Sprache mächtig wie Auserwählte, lässt sich die Sprache so dienlich
zwingen? Öffnet sich Verständnis doch schon ohne Worte. Wie anders
in der Musik, über die nur unter Musikern zu reden ist und sich jeder Dilettant
beschämt, mischt er über Musik sein lächerliches Quacken ein.
So wie Musizieren vorerst heißt: Hören: die brutale Abhängigkeit
von Äußerung und Wahrnehmung. Denn siehe, die Musik lacht niemals.
Wer sie erlernt, muss auf die endlose Landstraße, wird Weggefährte
und verliert sich in Einsamkeit.
Wozu wäre er je einmal jung gewesen, wenn nie eine Romantik ihn traurig
gestimmt. Das Silber des Mondes muss den Reichtum der Nacht ausweisen. Welches
Gold ist strahlender als das des riesigen Sternes? Du leuchtende Kraft, wärmendes
Feuer, Abendsonne in Rot. Der morgige wolkenlose Tag wird verkündet von
der Sonne Sinken. Wenn du diese Schönheit auch noch morgen brauchst, so
hüte ihr Geheimnis. Nicht erlernte Symbolik hingegen bleibt taub.
Will man den Lebensmut verlieren, muss man sich vorgaukeln, irgendetwas in seinem
nutzlosen Tun; für nichts taugt unser Streben, außer zum Verzweifeln.
Freiheit ist nur ein Duft. Die
Wiederholung gibt dann den Anlass zur Scheidung und bringt schließlich
Not.
Die Jahreszeiten wechseln, die Gegenden wechseln noch geschwinder. Dem Sieger
dürfen die wunden Füße nicht schmerzen. Wie aber brennen die
Sohlen dem, der für das Gewissen keine Minute opfert. Das Wissen um die
Bedeutung, das Ziel, edel ist solche Aussicht, doch wer weiß um den Lauf
und um den Grund des Laufes? Über Wissen oder Nichtwissen entscheidet die
Umhüllung.
Wurde er einmal gefragt, ob die Materie beseelt oder einfach nur da ist, formen
die toten Existenzen den Geist oder ist die Existenz immer lebendigen Ursprunges.
Sind es die beiden grundsätzlichen Gegensätze
von Untersuchung und Problemstellung? Oder ist es das Zuerst? Das Bewusstsein
ohne materielle Form - nur Gedankenspiel desgleichen. Sobald Materie vorhanden
ist, strebt sie nach Zusammenschluss, einem sinnvollen Organismus, nach höherer
Idee, einem bewussten Sein. So wird mit dem Auftreten von Dinglichkeiten auch
das Bewusstsein Ziel und Inhalt, nämlich das Gehen aller Materie. Die Grundfrage
entschwindet im dröhnenden Befehl: Geh!
Es ist nicht zu begreifen die billige Formel, dass alles zerfällt in das
homogene Gleichmaß.
Der Erfahrungssatz vom steten Wachsen der Entropie gilt nur für den Tod.
Materie aber strebt nach Hektik, kann nicht verharren.
Keinen Pfad den die Welt nicht schon kennt.
Vielerorts fragen ihn die, die einen Meister oder Lehrer suchen:
"Sprich, der du die Welt kennst, wo ist der Pfad der Wahrheit?"
Und wenn der Gefragte dann schweigt und seine Augen ins Leere gleiten, so sagen
sie:
"Nein, du bist nicht fähig, unser Lehrer und Meister zu sein."
Nicht Schweigen ist es, was sie schreckt, nicht der unverstandene Blick
eines, der so vieles schon kennt. Ist da jemand, der fragt und will Antwort?
Gescheiter wird er durch sein Fragen nicht.
Wie sollen sich die Ungeduldigen auf ihn berufen, suchen sie den Strohhalm,
sich zu retten:
"Weise uns an, bestimme, um uns zu halten, befiehl ein: Tu! oder ein Sieh!
oder ein Geh! oder nur ein Atme!"
So lassen die Versammelten von ihm, lehnen sich dagegen, unwürdig des Vorbildes
beschlossen, der Fremde, und suchen weiter nach dünnen Halmen und glauben,
suchen zu können.
Die Einfalt geht nicht auf den staubigen Wegen. Still steht die Einfalt, die
Stelle zu messen, unterteilt das Sein in Gestalt und ihren Ort. Wer aber Moraste
durchwatete und Schotterbahnen passierte, kann nicht mehr unterscheiden das
Traumbild von Gedachtem, das Überleben von Geduldetem, von Gefühltem.
Die Taten sind überflüssig genug.
Erzählt der Einsame den Einsamen und spricht mit dem Wind über die
wertlosen Erfahrungen.
So käme er unter Menschen, es würde kälter. Die Bäume verlieren wie
seit Jahrtausenden ihr Laub; in diesem Knospen und Entlauben, im Blühen
und Verwelken ändert sich nichts.
Welcher Versuch, die Menschen zu lieben, immer nur ohne die Nennung des Namens.
Keine Schönheit, die ihn preist, nur darum kann er sie preisen. Schönheit,
Prädikat für das Bleiben im Vergehen. Keiner vermochte je dem
Landstreicher zu sagen, ob Schönheit erst die Größe definiert,
die Macht, den Glanz der Seele; oder ob gar Größe, die voran, Schönheit
schöpfen kann. Zwei sich fremde Dinge sind in ihr verborgen: Der Weg
zur Harmonie als Schönheit und der Weg zur Spannung als solche, so sehr
sie sich auch auszuschließen zwingen, dass Harmonie und Spannung sich
zerstören. Es bleibt die Antwort offen, woran es vorbestimmt werden will.
Wer jung ist, strebt nach dem Älterwerden, doch älter geworden,
gibt es nur einen Reiz, den der Jugend, die dann zarte Formen annimmt. Das
Kind im Schoß der Mutter, in den Armen des Vaters; wie unterscheidet
es sich doch so unvermeidbar von den Erzeugern und wollen es diese nie und
auch niemals einsehen. So sterblich der Belehrer, so vergänglich auch
seine ängstliche Lehre, denn mit ihm stirbt seine Sprache; und seine
Erklärungen verlieren sich gleichsam. Die Kinder lauschen noch gefesselt
auf die Worte, sprechen selbst aber bald ihre eigenen und haben selbst bald
ihre eigenen Erklärungen und sehen die Welt nur mit ihren Augen. Ihr
Belehren wird an ihren Kindern später ebenso scheitern.
In den Gedanken verschmilzt Jugend mit Schönheit immer in Gestalt einer
Frau. Erscheinungen entstehen vor den flimmernden Sinnen.
Über diese Gedanken fallen die ersten Fröste ein. An der Fülle
des Sommers leiden und untergehen! Doch Ahasver pilgert weiter in die Gegend
der zerstreuten Gehöfte. Es bleibt nichts zu notieren. Der Traum ist jedes
Träumers Eigentum. Hören will nur, der selber spricht.
Die Blindheit, der man verfällt, für alles was das Herz ansonsten
traurig stimmt, ist wohltuend und
hungrig machend. So spräche er:
"Nicht die Stille sucht einen, man selbst flieht des Lärmens
Unruh. Mit welchen Qualen drängen fortwährende Fliehereien, wo
findet ein jeder seinen Tröster? Mädchen der Morgendämmerung
in schimmernden Schuhen und gelbem Gewand: Der Osten wölbt sich."
Wenn der Wind zu stürmen beginnt, das Dunkel länger wird, Schonsteine
zu rauchen beginnen, es heimisch nach Gebackenem duftet, dann mahnt die kommende
Kälte, sich ein Quartier zu suchen, zu schützen vor den Ungewalten,
dann lockt eine reinliche Stube mit ihrer Wärme.
Willkommen Wanderer, zu bleiben, zu singen vom Frühling, zu träumen
von gebrochener Erde unter dem Pflug, vom Grün entlang des Weges. Verlockend
die Stille in den Zimmern, wenn es draußen stürmt und klirrt: Zusammenrücken.
Die Bauern sind sesshaft und daher haben sie Dörfer, die sie nicht verrücken
und an Generationen weitergeben, daher haben sie feste Öfen für
den Winter. Die Menschen, die an einer Scholle haften, gieren nach Berichten
aus der Fremde. So würde er eingelassen.
Immer findet sich ein zartes Wesen, neugierig genug, die Tür zu öffnen.
"Fremder, weißt du etwas von der Fremde, so sag es!" Er sah
sie schon einmal, in Gedanken vielleicht? Verwunderung entfaltet die ersten
Gespräche, Verwunderung über soviel Ungleiches, was doch dieselbe
Sprache findet. Es breite sich eine klare Nacht aus mit ihrem Funkeln aus den
kosmischen Weiten. Je länger die Stunden der Nacht, je großzügiger
überlässt sie ihren Raum den leuchtenden Sternen: den Spendern aus
weiter Ferne. Zwei Augen strahlen auf ihn wie Castor und Pollux, die dem Orion
hinterher schauen. Mädchenhafte Schwärmerei der anonymen Begegnung,
zeigen sie einander das Sechseck des Winters am Osthimmel.
"Die Sterne? Deine Sehnsucht macht ihre Zwischenräume. Unsere Berechnung
ihrer Entfernungen soll doch nur die Ausweglosigkeit der Sehnsucht uns aufzwingen."
Wo ist der Ort Schönheit, ohne am Anfang schon das Ende dieser Zeit zu
wissen? Finden und Erkennen und Verlassen.
Ahasver atme ihre Nähe, ohne eine Beschreibung. Beide erblicken sich,
schauen gemeinsam ins Offene. Über dem Neuschnee erkennt man gut die
Konturen der Landschaft und das
Erlebnis einer gemeinsamen Beobachtung, eine hungrige Füchsin, die über
die Flächen schnürt. Eifer ohne Achtung vor ergebnislosem Spüren.
Wie frei und hungrig macht der Winter das Tier. Und sie erwidere ihm:
"Glaubst du, ein freies Wesen sei glücklich, also weine es nicht,
so kann es doch weder glücklich sein, kennt es die Tränen nicht,
noch frei; es wäre dann kein warmes Wesen, sondern ein kalter Klotz."
Der Wanderer auf dornigen Wegen verlangt die Dornen nicht. Friedlich ist sein
Verlangen, einen zarten Körper zu ergreifen, Sanftmut zu ahnen. Nur am
eigenen Leibe sich erfreuen ist ein regungsloses Jahr, bar jener Frische,
die aus dem Zwischenspiel sich neuert.
Momente des Leuchtens vergehen. Beide verabreden sich.
Sie käme tatsächlich zur Verabredung an den Steg am zugefrorenen See,
zwei Anglerkähne lägen mit dem Kiel nach oben am Ufer, auf einen dieser
setzen sie sich.
Reden über vereiste Äste der Weiden am Ufer, über das Weiß
der kalten Kristalle, über das Wippen des Lichtes auf den Schneeflächen:
Wiegen in einer Unterhaltung ohne Namen.
"Brauchst du einen Menschen oder seine Nähe oder seine Zuneigung,
so wird der Schmerz dich verfolgen. Kommt aber ein Mensch auf dich zu, so
freue dich für diesen Augenblick, nur für diesen; wisse aber, dass,
gehst du auf einen Menschen, dir Abweisung widerfahren kann und also auch
wird und muss."
"Bleibe bei dir oder komme zu dir! Ist deine Schlichtheit Wohltat für
andere?"
"Zu sich selbst kommen, ist ein hohes Ziel, wo aber schleicht die
Barmherzigkeit? Sie kommt, kreuzt dein, entfernt sich."
Was in diesen frostigen Stunden an sie herankommt, reißt die raue Erinnerung.
"Bin ich mir selbst nur Ziel, so sind andere Menschen nicht in meinen
Träumen. Also will ich wieder umkehren."
Jede ihrer Situationen maximal mit Emotionen zu füllen, ohne nach einer
Wichtung zu differenzieren. Lässt sich die Aussage
beschränken: Alle Situationen sind gleich wichtig.
Spräche sie also: "dies ist mir wichtig", so ist es wohl wahr, gleichfalls
aber für den Hörer ohne Bedeutung. Ist nun alles von gleicher Tragweite,
muss sie hineintun, bis die Senke ausgefüllt; dann ist der leere Abschluss.
Ein Wind käme von Westen herüber, Schneegestöber ziehe heran. Sie
stünde auf und gehe ohne Abschiedsgruß und ohne sich umzublicken zurück
ins Dorf. Wie sie kam, entschwinde sie.
Wie ist ihr Name, den sie nicht nannte?
Sie taten gemeinsam nichts und vollbrachten keine Erinnerung, sie mitzunehmen.
Doch es blieb etwas zurück: Des Schaffens Schönheit zu ahnen in
der Stille, also wird es ein Wiedersehen geben müssen.
Irgendwann wird es soweit sein, die Schilde sind verbraucht, keine Wache wird
ihn schützen,
dann erschlägt ihn die Einfältigkeit des Zurücklassens, kommt
herabgestürzt wie eine Dachschindel.
Oder aber seine Erwartung erdrosselt ihn. Oder beides! Da es ohnehin zusammentrifft.
Immer.
So muss er fort von jedem schönen Ort, denn es dröhnt ihm: "Ahasver
Geh!"
Ob er zum Meer ginge, umkehrt; alles wiederholt sich. Das eisige Meer mit seinen
Mächten: Gewalt der Veränderung. Es müht sich unaufhörlich
ohne Starre. Vom riesigen Bruder einen Gruß erhaschen und wieder landeinwärts
marschieren. Die Ferne wird ihm schon wieder der naheste Freund.
Die Wochen vergängen, bald eilend, bald schleppend, niemals zurückblickend.
Die Spuren verwischt der Regen. Jeder Mensch ist seine eigene Welt. Das Risiko
ermöglicht das Beobachten der Begegnung außerhalb ihrer Feindseligkeit.
Flussaufwärts, flussabwärts, in der Schneeschmelze, die Fahrt beschleunigend,
den herabfallenden Murren hinterher blickend, mit dem Steilufer liebäugelnd.
"Die Orte sind unzulänglich, das Tempo ist die einzig
verlässliche Richtlinie."
Spricht Ahasver und geht hinfort.
3. Kapitel
|
Eng die Maschen, die Knoten fest, weiß er doch um des Verlassens wahre
Gestalt.
Suchende des Lebens, verlangt das Risiko! Besteigt das Dach der Welt, die
eisigen Gassen schneebedeckter Berge, der Weg ist ohne Wärme, doch es
ist der Weg. Ist aber ein steiler Gipfel seine Gefahr wert, dass wir ihn erstürmen
wollen? Gehen über die Erschöpfung hinaus, immer weiter.
Die Ermattung nur macht frei, von der Bestimmung ergriffen zu sein, dass die
Beobachtung sich seiner annimmt, und zum unbeachteten Beobachten fühlen
sich die Augen gerade noch wach genug. Je ungezwungener der Schritt auf den
Weg sich macht, desto strenger steckt die Grenzen er ab am Ort, wo verweilen
er wird zum emsigen Fleiß.
Eines Morgens erwache er in der Stadt, die gleich ihm erwache und ein Tummeln
und Drängeln entfalte. Es treibe ihn durch die Strassen, geordnet und
behütet. In die Stadtparks zögen Schwärme von jungen Frauen, schlaksigen
Männern, Mütter mit ihren Kindern. Dort setze sich der Erschöpfte.
Über dem Tumult und nachlässigem Zeitvertreib jener, die gleich
ihm auf den Parkbänken die Stunden absäßen, falle er in das allgemeine
Dösen. Wie jeder mit sich die bessere Zeit verplant, jeweils die anderen
beobachtet oder in belanglosen Gesprächen mit den Nebensitzenden plaudert.
In diesem abgeschobenen Zustand wächst im Fremden die gleiche Ignoranz,
die er anfänglich nur bei denen, die hier zuhause sind, beobachten musste.
So also entsteht dieser leidenschaftslose Vertreib; das macht den unbefriedigten
Menschen noch versteckter. Der Fremde wird fremder noch, der Ungebetene noch
ungesehener.
Die Stadt rege sich, inzwischen begönnen die Kinder zu kreischen, junge Mädchen,
ungeduldig auf jeden Tag, erwartungsvoll eilen hinunter, sie könnten
eine Alltäglichkeit versäumen.
In das Beobachten und Zuhören versunken, verwickele ihn ein junger Mann
in eine Unterhaltung, die dieser allein führt, sodass Ahasver in seiner
Beschäftigung der Observation verweilen kann.
"Heute vermag ich es noch nicht, doch morgen werde ich leben. Dass es
sein wird, weiß ich, wann es sein wird, weiß ich nicht."
Es trauert mancher einer dahingegangenen Zeit noch nach, umso mehr, wenn es
eine kurze war, entweder weil die aktuelle ihr kein Gleiches zu geben vermag
oder weil die damalige unerfüllt blieb. Das Ende der Kindheit nicht verwinden
oder die ungelebte Kindheit endlich zu durchschreiten. Der traurige Mensch
ist traurig, doch der lachende ist trauriger noch.
Die Melancholie ist damit beschäftigt, große Wunden zu missen und
sich darüber täglich kleine Wunden zuzufügen. Es kann ein ganzes
Jugendwerk sein, die eigene, gerade beendete Kindheit zu verarbeiten, als
gäbe es im Hier keinen Flecken, der ein Tun abfordert. Beide sprächen
sparsam; eine Alte mische sich ein:
"Trittst du einen Menschen mit Füssen, besinnt sich dieser auf seine
Kraft, nutzt sie, sich zu schützen, und wird es dir danken. - Schonst
du einen Menschen, gönnerst ihn, so wirst du keinen Dank erhalten, zu
recht, denn was wäre ihm stattdessen alles möglich gewesen."
Ahasver blicke sie an, will ihr nicht zustimmen, nicht widersprechen. Sie
nicke. Erst verschwinde der junge Mann, dann die Alte.
Der laute Ruf des Fährmanns, ein fester Schlag auf glühendes Eisen,
Sinnlichkeiten in Wirkung und Gestalt, ungeschminkt die Richtung zu gehen,
gehört zu werden. Schrecklich ist die Angst vor dem Gehemmten.
Der Mittag bringe ihn auf einen Platz, auf dem Frauen mit Händlern feilschen
um die Herkunft des Obstes und die Lauterkeit der Lieferer, die stets nach
den Wünschen sich geben und verstellen. So wundere sich der Fremde über
die Position einer vor ihm Stehenden, die erhoben sich zeigt, sie trüge
aber lumpige Kleider, und muss er erkennen, dass die Kleider nicht armselig,
sondern Bußgewänder sind, aus behüteten Stoffen. Eine solche
Frauengestalt lobe ihr Kind, welches im Sand spiele: "Alles was im Tun
entsteht, ist schön."
Und meint, dass auch all ihr eigenes Tun nur Schönes hervorbringen könne,
als sie es zum Kind schwärmt, sie sich der Umgebung zuwendet, worauf
sie den Ahasver, den stummen, abgelaufenen, staubigen Zuhörer erblicke,
nach Musterung ihn tadle: "Wie kann deine Regung nur so sparsam sein?"
Darauf ergehe sie sich verlegen wieder in ihre Gebärden. Wie unmöglich kann ein Kind sich aus der Umklammerung
der Mutter befreien; auch ein erwachsenes Kind, welches selbst schon ein Kind
zu den Spielplätzen schleppt. Doch in den Kindern sieht ein jeder Trost.
Und wirklich, nur dort ist er zu finden: Welch eine Last für sie.
Fast scheint es Ahasver, dass die Einsamkeit der Stadt ihm ähnlich ist,
wenn sie sich nicht aus tiefstem Grund in ihrer Bewegungslosigkeit verraten
würde, die dem Läufer das schreckliche Gegenteil ist. Doch sind
die Einsamen in ihrer Vielzahl sich verbunden, und die Starre des Nachbarn
bleibt ein Schulterklopfen für alle Mitläufer. Neues zu ergründen,
Unbekanntes den Menschen zu bringen, macht den Streber kaputt, richtet sein
Herz zugrunde. Mit diesen Gedanken irre er umher in den Wüsten aus Glas,
Beton und Staub.
Die Sprache sei das einzige Organ der Erkennbarkeit, welch ein Irrtum beschränkter
Geister, sind ihr alle anderen Möglichkeiten doch überlegen, ist
die Sprache doch nur hörbare Zeichensymbolik, die dem Benutzer eine Erkenntnis
vortäuscht. Das Reden ist ein lautes Geräusch und kann nicht stumm
sein.
Überall mehren sich die Lehrer; ist er hingeraten, unter die Bessersprechenden,
die gegen Geld sich Weisheit entlocken lassen: Der fromme Schüler
bekommt gelehrt, an sich selbst zu glauben, an die Richtigkeit des eingeschlagenen
Weges, völlig unabgelenkt durch kreuz und quer führende Spuren der
Irrläufer und solcher, die überhaupt seitab des Weges umherirren.
Dort beginnt ein Methodiker, der aus dem fernen Osten seine Weisheit herüberbringt,
nach dem immer gleichen Muster: "Du bist klein; du hast noch nicht begriffen."
Erzwingt ein Zuhören. Innerhalb seiner Rede macht er Mut, die Anfangsschuld
der Dummheit zu überwinden, indem er zwischendurch in seiner Gnade einfließen
lässt: "Versuche zu verstehen, es, das Versuchen, es wird dir helfen."
Dem, der sich wahrheitssprechend wähnt, ist nicht dawider zu reden.
Wer wagt es, bezeichnet den Gautama als Dualisten? In der Gegensätzlichkeit
von Leben und Tod? Die Aussöhnung, das Erträgliche, das Lebenswerte
sei ein Mittelklang und lehnt damit die Integrität von Sterben und Schöpfen
ab, indem er kaut: "Seligkeit ist Gleichgewicht! Wählen aber heißt
Leiden!" Ist es: Entscheidungen ablehnen? Erkannte wer, dass der Vortragende
den Zweifel seiner eigenen Worte bekennt. Selbst für ihn ist dieses oder
jenes absurd.
Spricht ein Erzähler doch nur von sich, um sein Selbst zu bedauern und
macht sich dadurch winzig.
Auf der Suche nach der Wohlgemutheit, was Epikur die Seelenruhe nennt. Die
Augen muss er wieder öffnen!
Ahasver gehe zwischen die Menschen und durchstreife ihre Straßen.
Das Alter, das einem Mann wie ein Urteil zufällt, ist der Grad, sich
unbekümmert zu verlieben oder eben nicht. So kommt, was kommen muss,
und Spiele sind mit einem Male keine Spiele mehr. Auch in diesem Mann ist
Drang nach diesem Märchen, und Verlockung ist der Neugier Eigenart.
Dieses Drängen, je das Leben zu befrieden, wer mag es angehen, wer gibt
weisen Rat?
Was aber vermag die Liebe dort, einzige die fähig, je die unerfüllbaren
Bedürfnisse der Seele zu stillen?
Sie käme von irgendwo her, aus einer kleinen Straße, streife vorbei.
Wann wird des Traumes Sucht der märchenhaften Romanze gesättigt?
Kommt dieser Schmerz, ein jeher Abbruch, so bleibt zum Schluss die Wirklichkeit.
Mitten auf einer belebten Strasse begegne er ihr wieder, wie sie sich dem
Meer von strömenden Menschen überließe, bliebe Leuchtende in
der Vielzahl, sodass er hinterher ihr eile, stelle sie an einer Kreuzung,
rufe sie an, berühre sie fast.
Beide blicken sich an und blieben viele Augenblicke stumm, dann endlich spräche
er:
"Nun sage mir deinen Namen!"
"Was bist du doch eingebildet, dass ein jeder dich kennen müsste,
mir deinen nicht zuerst zu nennen. Ich weiß ihn, doch dass darf dir
kein Recht mehr als mir bedeuten."
Unerreichbar höre er auf ihren Mund.
"Du wirst ihn dir aus meiner Iris lesen müssen!"
Drauf verschwände sie im Gedränge. Der Verkehr rausche, als sei nichts
geschehen. Irgendwo in der Strömung verlöre sich ihre Gestalt und darin
verlören sich auch seine Gedanken. Blicke glätten ziellos noch in die Ferne.
Nachts im Schlaf erschienen ihm ihre Augen, und er erwache unterm
Ruf ihres Namens.
Was heißt es, ein anderer Mensch lebt und erscheint? Erscheint ein Bild
ihm im Traume, so lebt das Bild für ihn und seinen Traum - also in ihm.
Wo lebt er selbst? Erscheint Ahasver in einer für ihn fremden Welt, so
lebt er doch für diesen Traum in ihr, die, solange das Träumen währt,
reale Welt ist. Kehrt die Phantasie anderennachts wieder und in Folge, so baut
der Träumer eine eigene Erfahrung, von der er nicht mehr zu sagen vermag,
ob sie nun real oder virtuell sei. Immer wieder erschien sie ihm.
Seine Schritte eilen auf ihr Wiedersehen, auch wenn sich ein Verbot aufdrängt:
unmöglich zu beginnen. Tatsächlich treffen sie aufeinander, wobei
der Ort egal ist, nur dass er ausgewählt war, genau wie die Tageszeit dem
Zufall als die richtige erschien.
Eines Morgens begegnen sie sich erneut, und da wäre es in einer Zwischenwelt,
in der Traum und Erleben sich überschneiden.
Annäherung beginnt. Die
Unlogik der Schönheit auf manches männliche Privileg ist reizvolle
Unterhaltung. Zufall oder Plan als Einheit Allens. Erkennen wäre, sich dem Reiz entziehen.
Offen der Zugang und also offen zu einem anderem Ich. Wenn die Lust nicht
mehr von Situationen abhängt, wenn die Situation nicht mehr an
Lust sich bindet: Fließen aus einer Begegnung, ohne Konstruktion, dort
ist Lachen. Endlich sich haltend, legt ein Moment der Ruhe sich auf zwei.
"Das Leben ist nicht zu erlernen, es ist nur zu lieben. Wo bleiben uns
die anderen Menschen? Wo bleiben uns die Hilfesuchenden? Wäre in uns
eine Pflicht zu spüren, ohne einem Zwang zu unterliegen, ohne den Schmerz
festzuhalten. Es kommt über uns die Erfahrung. Geweinte Tränen öffnen
unsere Arme. Nichts zurück halten, keine Träne, keine Möglichkeit!"
Die Liebe ist Beginn zu jedem Punkt deiner Zeit. Der Liebe Feind, der
klare Kopf, greift festen Willens zurück auf Resultate, erlangt neues
Füllen. Einander verschlingen im Durcheinander der dröhnenden Stadt.
Jetzt beginnen Augenblicke.
Was war, ist für die Liebe nicht gewesen. Dem Menschen aber trübt
das Alte seinen Blick
zum Jetzt, bewahrt ihn vor der Hingabe, dieser lieblichen Erniedrigung.
So gängen sie aufeinander zu, laut und ungeteilt, fänden sich in Erfüllung
der Heimlichkeiten, die Vermischung ergösse sich: das Fühlen ergründen,
den Körper ertasten, ihr Denken erahnen.
Der Vermischung ist Vergangenes nur transzendent: Erfahrung - wo kommt sie
her? Wer muss sie erfahren?
Immer wieder suchen sie die Räume der Hitze, wissend dass Schweiß
nicht Glück verheißt.
"Möge sie heiß sein unsere Stunde, Ort der Stille, der Worte
auch, dass es friedlich singt in uns."
Käme ein neuer Morgen in die Straße, übergäbe er sich dem Verkehr;
in seinen Gedanken klänge noch etwas sehr Zartes, leise, immer leiser. Genuss,
der dem Ernst die Stunden stiehlt, indem ein Nichtstun Tagesinhalt wird, mehr
noch dieses Nichtstun die Aufmerksamkeit auf sich verlangt, worauf die beorderten
Zuschauer sich anschließen. Das Leben voller Unruh, heimatlos, kein
Halten, kein Ergreifen, hektische Musik aus allen Richtungen, ordnungslose
Interferenzen, Abbruch jeder Schwebung.
Sie sei verschwunden, doch am Abend fänden erneut sie zusammen. Tage verstreichen.
Der Sommer käme und der Sommer schwebe flirrend davon.
Die Landstraße bleibt noch geduldig, während eine Frau über die Feindschaft
von Freiheit und Macht redet. Weil eine Herrschaft Kunst und Leben trennen will
und muss, gerade dieses zeigt es, dass es herrschaftslose Zeiten gab; wie denn
sonst hätte das Mystische entstehen sollen, heute vom Leben unerreichbar,
weit entfernt. Nur weil sich Kunst und Klarheit einstmals liebten.
Eine Frau braucht einen Mann, sodass er da ist; jedoch braucht sie ihn nicht,
sodass er nicht da ist - auf Wanderschaft zwischen den Welten. Verbrechen
wäre es, ein solcher Wegelagerer bände eine Ehe an sich. Das Weib
braucht den, der ja sagt, nicht den, der süchtig ist. Der Weltgewandte
ist überall einsam. Der die Welt Umwandernde hat nur einen geborgenen
Ort: die Straße.
"Ein Mann ohne Heim ist nur unglücklich, kann aber leben; eine Frau
hingegen müsste daran zerbrechen. Daher muss ihr verwehrt bleiben, die
Heimstatt zu fliehen."
Ahasver sähe einen Reichtum in ihr erhellen; neues Leben eintreten, dass
sich erfroht. Ihre Launen würden zärtlicher und ihr Lachen mit jedem
Tag mutiger, bereit einen Diamanten aus dem trüben Meeressand zu fischen.
Und danach kann nur noch Ernüchterung kommen: Das Überleben.
Ist aller Liebe Ziel, aller Zärtlichkeiten Schlusspunkt einfach nur der
tierische Trieb; und dieser erlöst sich in der Schwangerschaft. Wie lange
musste es dauern, endlich erreicht sie auf den hohen Ebenen das eisige Wehen
der Vernunft. Der Frost der Einsicht, der Instinkt der Nestbehüterin
fällt auf ihre natürliche Gabe und sie spräche zu Ahasver:
"Du weißt es schon, was ich dir streng verheimlichen will und muss,
und darum dich jetzt fort weise.
Meine Wahl ist nicht frei, sie ist mir grausame Logik, freiwilliger Sklave
der Unabdingbarkeit, mein Entscheidungswille verschleiert unzureichend die
Pflicht."
"Ahasver Geh!", spricht eine Frau: "Geh fort!" Dieser Befehl
aus einem Menschenmund, aus der Kehle der Geliebten, immer wiederkehrende
Anweisung seines Lebens.
Einzig ist die Schöpfung: Sie ist Gebären.
So unterliegt der Mann dem gebärenden Weib, denn sie verkörpert
die Macht der Schöpfung. Eine alte Erfahrung spricht ihm wider: Der Schöpfung
Macht liegt höher und verborgener; das Weib ist selbst nur Instrument.
Die größte Freude ist das eigene Kind, wenn es kommt - aber der
größte Schmerz, wenn es geht. Weher wird es nicht mehr. Stumm sind
Blicke, die scheu den Frieden sehnen; warm sind Tränen, die nicht fließen
können, frei; nicht ins Kalte, nicht ins Trockene sich verlaufen. Einfalt
oder Wollen nach dem ruhigen Geschehen, friedvoll zu Frau und Kindern, die
dich überleben sollten und wieder anders doch das Gleiche sich ernehmen.
Trug ist dieser Wunsch des Immerziehenden, stets verlassend dieses Kinderlachen
und die Freude ihres Spiels; fürchtet er in seinem Gehen schon um ihr
seinesgleichen Schicksal. Fort und fort! Die Süße dieses Augenblicks,
die sie nur diese eigne ist, und lässt keinen Fremden ein und folglich
keinen drin verweilen.
Mit ihr verschwände das Licht, alles Suchen ist vergebens. Ahasver irre
wie vom Wahnsinn gepackt. Dem Mann ist Mutterschaft und Nähren nicht
gegönnt; um aber an den Menschenkindern zu genießen, erfindet er
eine Macht, sich als Hausherr über eine Frau und deren Kinder zu stellen,
und so sich ein Recht auf diese schaffend. Oder er proklamiert die Notwendigkeit
einer Ordnung und Ausbildung und letztlich eine Schule, die demnach zwangsläufig
vom Mann geprägt sein soll. Oder er ersinnt noch andere Möglichkeiten,
seine naturgegebene Kinderlosigkeit, über die er nicht trauern darf,
so wie etwa unfruchtbare Frauen trauern oder weinen dürfen, zu übergehen.
Wer es nicht versteht, sich ans Leben zu binden, versucht vielleicht sich
an einen anderen Menschen zu binden. Eine Zeit kann es befriedigen, jedoch
schafft es der andere Mensch nie lange zu ertragen.
Vermögen die Bilder nicht voneinander zu lassen, wie Symbioten klammern
sich die Teile an die Nähe, bald dem Parasiten ähnlich sich ertappend,
hängen sie in einer erwünschten Stunde beieinander.
Man kann den Fels nicht mit Händen stützen. Einem Menschen,
den Schwermut oder Furcht zu beugen sucht, kann nie ein fremder Menschenarm
als Krücke dienen.
Helfen ist unmöglich. Aber wenn es einen gibt, der zuhört beim Stöhnen.
Ahasver erblickt in der Erinnerung sein Spiegelbild und will es nicht wahrhaben.
Sie aber erkannte es schon früher und ist also weiter und darum schon
fort.
Ereignisse fliehen vorbei. Die Nächte verbringe er in Absteigen: Spelunke
oder Hotel; der Reisende bleibt Asylsuchender.
Das Überflüssige ist das Vornehme: Die Unerfüllbarkeit des
Rausches. Ist ein Sonnenstrahl nicht edler als alles kluge Geschwätz?
Wo kein Heil in Aussicht ist, wird Schuld gesucht. "Ach Bruder, was ist
es, das da ruft." Selbst noch im leeren Raum ertönt ein leises Rauschen
gleich einem schwachen Licht, der Finsternis noch einen Schein zu geben.
Und schon wieder die Spuren verwischen.
"Ich möchte diesen Schmerz behalten, gehört er
untrennbar zu mir: In meine Vergangenheit. Kein Bedürfnis blüht
in mir, ihn zu überwinden. Begleiten soll er mich, wie jede Falte mich
begleitet und jedes graue Haar. Ist er doch ein Stück von meinem gelebten
Gang; denn nur weil die Freude groß war und die Liebe, kann nun der
Schmerz dann so gewaltig sein, und wird auf immer mir gehören."
Spricht Ahasver und geht hinfort.
4. Kapitel
|
Ahasver wandere von Stadt zu Stadt, über Staatsgrenzen hinweg, durch
die Vielzahl der Sprachen und Dialekte. Ihn umgibt das Umherirren, das
Vereinsamen, eine Flucht, eine Ablehnung des weltlichen Eifers. Endlich verharre er in einer beliebigen.
Wenn eine Stadt in stille Klage fällt und die Träumer in ein unerschütterbares
Schnarchen gleiten, dann verfetten die Mittelmäßigen und die Durstigen
igeln sich in kleine Welten, verstecken ihre Augen vor der Selbstgefälligkeit
der Nachbarn.
In der Stadt würde er von einem unausweichlichen Sog des Rückzugs in die
Konspiration ergriffen, vom Träumen nach Veränderung, dem Drang,
für die Verabschiedung des Alten alle Mittel zu benutzen. Die Einzahl
der Jugend: Gebraucht zu werden, ist ihr einziges Ziel; jede feste Struktur
aber knebelt die aufstrebende Generation.
So hat die Lust einen Zwang, den Staat, der fesselt, kraft der wunderbaren jungen
Jahre dem Untergang zu unterwerfen, Möglichkeiten zu beenden, was Hindernis
ist. Freiheit, Zerstörungswut der Jugend freie Bahn zu lassen, Peinigern
den Garaus zu machen. Zwinger eines Sturmes aber ist jede Verhärtung,
so freiheitlich sie sich auch darstellen möchte.
Mit welcher Wonne werden Schwierigkeiten überstiegen. Der Märtyrer
verlangt den qualvollen Tod: Er ist ihm nicht Glück, er ist ihm sein
Werk. Der Bombenbauer will nicht belohnt werden mit Geld oder Verehrung, nur
zerbersten will er sein Kleinod sehen.
Unendlich und bewegungslos scheint das Universum, mit welcher Ruhe gleiten
die Galaxien und mit welcher Geduld weisen sie den hektischen Kreaturen, dass
sie der menschlichen Kürze eine ewige Unveränderlichkeit entgegnen.
Doch plötzlich erstrahlt am Himmel ein Wunder: Ein Kommet hüllt
sein Zentrum in einen Nebelschweif und überschlägt sich, die Zuschauer
in die Ehrfurcht zu zwingen, zeigt die Trägheit in den schleppenden Nichtigkeiten,
Geschwindigkeit versprechend. Angesichts der Größe einer astronomischen
Beschleunigung erschauert der Eiler.
Die Gegenwart des Vorwurfs macht den Stürmer lustlos, die Klage schwärzt
ihn krank, die traurig den, der sich schuldbewusst zu zeigen den Befehl bekam,
in eigener Demütigung entblößt, wie auch den anderen.
Soll Schuld und Ursache noch der Schulden Anfang klären? Ist es nicht vielmehr
das Säumnis allzu meist, der eignen Trauer arbeitsam sich zu ergeben.
Doch des Pöbels Augen flammen von Hass und Begeisterung, solch schönes
Menschensein. Wenn eine richtige Zeit anbricht, hilft kein Bremsen, es muss
voran, auch wenn die Überlegung mahnen möchte. Doch Leben ist beginnender
Tod.
Menschen versammeln sich. Große Pläne entwerfen schmiedet die besten
Freundschaften. Jedem gehört, was er benennt: die Freiheit, die Welt,
das eigene Volk.
So spricht er:
"Wie kannst du behaupten, der Falke im Käfig gehöre dir? Du
hast ihn vielleicht gefangen oder erstanden für ein lächerliches
Entgelt. Öffnest du die Käfigtür, verlässt er dich, gleich
was du ihm hinterher brüllst; wen kümmert es?"
Sieh zurück in der Geschichte grausamen Spiegel, wie mit unruhvollem
Blick die unerschrocknen Streiter vorüber hasten und rufen: ich bin,
ich bin zu hören; was muss man ihre Angst erblicken. Jedoch sie sagen
bedacht: Was gibt es schlimmeres, ein Nichts zu sein, als kleiner Kiesel ungehört
von dieser Welt zu scheiden? Dass es jenen schwere Träume macht, was
nach dem Tode sich noch hält, der Name, die Ruhmestat, was in tausend
Jahren noch durch die Zeit als Keim erhalten bleibt. Das macht die Angst ihnen,
die Sonne nicht zu sehen. Was sollte zu raten denn sein? Dass der Name überlebt?
Die Panik macht sie zu Reisenden ohne Hoffnung. Nichts liegt in der eigenen
Gewalt, weil es mit Vorsatz getan wird und darum am Vorsatz vorbeizielen muss.
Freunde bis in des Mordes Morgenstunde, vereint als Diener des Schicksals, von
Ehrfurcht einander fest verbunden. Die beiden einsam Erstarkten fanden erst
zusammen, als des einen Brust zersprengt, getroffen in des Blutes letztem Quell.
Mord allein befreie beide in einen festen Bund.
Wie schnell rührt sich auf offener Strasse der Schlagstock auf andere
nieder, wollen sie die Vorwärtsgehenden zum Stoppen bringen. Sicher ist
für sie die Freiheit ein trauriges Laster, denn es verliert sich in ihrem
Taumel der Blick für das Weite, das sie Nutzen nennen.
Eine Gruppe junger Männer um einen, der Führer ihnen wäre,
einzeln träfen sie sich, hießen Ahasver einen alten Vertrauten,
fast einen Vater, nicht ohne die Arroganz der Jugend, bilden eine der
Zellen autonomer Kraft, Täter zu werden. Ihre Opfer haben es leichter,
sie werden frei von Schuld gesprochen. Gehen einfältig in ihren Tag hinein
und dauern später den Nachgeborenen; dieses ist noch das Größte
in ihrem Leben, dass sie am viel besprochenen Geschehen teilhaben: als Sterbende.
Wer aber das Monster zusammenstümpert, ist Verursacher der späten
Verwüstung, von der er als Bastler nichts wissen möchte. Warum ging
Ticho Brahe einst zum Rabbi Löwe? Ahnte er schon aus den Sternen den
drohenden Golem? Der Erfinder Rotwang wurde erst vom verhassten Friedersen
überredet, eine falsche Maria zu laborieren. Eine elliptische Bahn zu
errechnen, ist der Hoffnung an eine geklonte Rettung nicht sehr fremd. Nicht
schaffen also dulden, aber auch nicht führen also dienen.
"Reformer sind jene, die nicht Volk sind und nicht Herrscher. Ein Wahlzettel
bringt uns keine Freiheit. Wir aber müssen handeln, auch wenn es Opfer
geben wird."
Doch Ahasver spricht:
"Welche armseligen Träume von Freiheit; da und dort
dir selbst eine Entscheidung möglich zu lassen, die noch des Dankes
bedarf. Was sich Freiheit nennt, nenne ich Verschleierung. Behaltet die
Größe eurer Wünsche, nicht durch Kreaturen auf billige Zufriedenheit
gestutzt!"
Es ist unmöglich: Die Voraussage. Vielleicht gibt es hinkende Vergleiche
mit der Vergangenheit. Preis der Wohlstandssucht ist der unabänderliche
Sturz des Bestehenden, auch wenn der Lohn der Zivilisation billig den Preis
rechtfertigt. Und dieses Los des modernen Menschen, das Projekt der Zivilisation
begann mit dem Werk des Baues von Tempeln und festen Grabstätten, womit
die Macht der Masse verabschiedet: die Abspaltung einer Elite vom Pöbel
durch das Urprojekt des höheren Schaffens: das Bauwerk als Schöpfungsäquivalent
des Menschen. Mit dem Auftrag, mit dem Plan, mit der Obhut über solchen
festen Bau, als Werk erhob sich die elitäre Struktur, eine schaffende
und planende Notwendigkeit der Gemeinschaft, verdrängte Muskelkraft und
Waffengebrauch in die Bagatelle. Nun begann das faule Erhalten der Erhöhung
und begann der Drang auf Sturz. Wie viel Macht darf die Elite mit dem Pöbel
teilen, ohne dass die Kultur herabsinkt? Wie viel Macht vermag die Masse,
die schnell einem Rädelsführer folgt, einer Oberschicht zugestehen,
ohne dass diese blind wird? Erlahmt die Führung, ist die Revolte nahe;
es wollen die Gedrückten nicht mehr wie sie sollen, und die Drücker
können nicht mehr wie sie wollen.
Taucht aber die Elite in die Gesetze der pöbelnden Masse, so wird der
Kultur ein brutaler Abschied. Doch vor zu eiliger Befremdung schützt
die Trägheit; schlimmer noch, ist doch die Dummheit Faktor der Masse
gegen jeden fortschrittlichen Gedanken. Dahinter verschwindet jede Idee einer
Volkserziehung; übrig bleibt die Auswahl - das Volk ist groß und
die Möglichkeit in jedem Samen - das Übergewicht fällt in die
Bedeutungslosigkeit der Menge hinab.
Jede Revolte stützt sich auf Vagabunden, Hungerleider oder auf eine Mafia
- die konspirativen Träumer sind alles zusammen. Der heimliche Terrorplan
bringt ein Lächeln auf die jungen Gesichter, vermummt erkennen sie sich
doch.
Die Aufgabe gibt Disziplin, wie der Physiker, der das Zimmer, das Wünsche
erfüllt, sucht mit einem Sprengsatz im Mantel, das Gefährliche zu
vernichten; bringt er die Strenge für den beschwerlichen Weg durch die
verbotene Zone mit. Sitzt er dann endlich vor dem ersehnten Bereich, verliert
er vielleicht die Entschlusskraft und entschärft den Zünder.
Verlieren kann man nur die Möglichkeit; und Ahasver spricht:
"Versäume keine! Versäume keine Gelegenheit, das
nächste zufriedene Jahr sausen zu lassen!"
Schafft sich das Verbrechen den Platz, im Dienst oder aus Berufung, aus Pflichterfüllung
oder aus Liebe: es kommt die Vergeltung, sie muss kommen. Auch Söldner
im mörderischen Dienst sind Opfer, nicht nur die Frauen und Kindes dessen,
auf den sie ihre Mienen werfen.
Feige Kämpfer werden zu Helden, wenn sie einen Heldentod sterben dürfen.
Bannführer, die gesehen wurden, als sie enthauptet, gekreuzigt, auf dem
Schafott verbrannt, auf dem elektrischen Stuhl verkohlt. Warum gingen
viele so siegesreich den letzten Gang? Die Aufmerksamkeit, die ihnen zuteil,
war grausam, dennoch stolz war die Brust der Delinquenten: Mit dieser öffentlich
getragnen Qual, vermochten sie es also letztlich doch, der Menschheit Achtung
- wenn auch spät - eine Anerkennung aufzuzwingen. Auf dem Leiterwagen
zur Guillotine sang der Revolutionär, zwar nicht die Welt verändert
zu haben, aber von Späteren, die es ihm - vermöge ihrer Jugend -
gleich träumen, Märtyrer genannt zu werden, die so gebrannt im Feld
der Vergangenheit sich Helden suchen. Ungehört zu bleiben, ist ein Schlimmes
für einen frühen Tod - ungleich grausameres Los für den, der
Hohes träumt. Ein öffentliches Mordspektakel kommt einem Gang ins
virtuelle Reich der unsterblichen Ideen, die alle Träumer sich auf diese
Weise träumen, gleich. Und diese Träume sind gesprochene Worte von
den Zielen der Menschlichkeit, schöner Trost geschrieen in den letzten
Sekunden, die somit - spät - zu ihrer Macht gelangen.
Überall in der Stadt sammeln sich Diskutierende, die das Bisher nicht
mehr ertrügen; und offenbar wäre es, dass die Zufriedenen ihre Aufteilung nicht
mehr verteidigen können. Laute Stimmen und zum Attentat bereite: Nichts
kann mit der Schönheit einer Anarchie konkurrieren.
Die Strasse gerate in eine Bewegung, fülle sich, überfülle
sich, junge Männer, Frauen, allerlei Volk; fänden sie zueinander in Empörung
und Unmut; zögen in gleicher Richtung. Zufälligkeit der entstandenen
Masse, die eine kritische Größe der Überfüllung durchbrach.
Im Straßenstreit gesteht sogar der Vaterlandsverein die Schönheit
der chaotischen Wirrnisse.
Steife ein Zug von Menschen, durch Rufe die Gemeinsamkeit motivierend,
bis an die Absperrung der Polizei. Plötzlich weiche die Masse der Barrikade
über die Nebenstrassen und Hinterhöfe, nun genießen sie als
Vorteil ihre Uneinheitlichkeit, umgehen damit die Taktiker unter den Hütern;
Freude hebe sich.
Entwickle sich der Aufstand zum festlichen Spiel. Langsam schüre der
Marsch die Ästhetik der Gewalt. Ahasver würde vom Strom der Begeisterten
gezogen, die sich über ihr Ziel nicht klar wären, verzweigen
sich an den Kreuzungen und fänden woanders wieder zusammen.
Dann höre man in der Ferne Detonationen. Alles gerate in ein Rennen,
die Züge wüssten nicht wohin. Gepanzerte Fahrzeuge drohen in ihrer Kolonne;
der Aufmarsch drücke den Versammelten die Tränen in die Augen, geblendet
von giftigen Gasen würden sie auseinander gestoben. Wenn sich nach Stunden die
Straße beruhige, berichten Nachrichten von den Wirren heimlicher Terrorschrecken. Fände die Gruppe wieder zusammen, mache sich eine furchtsame Ahnung
breit, und die Berichte über den Ort der Auseinandersetzung ergänzen
sich in bitterer Erkenntnis. Sie eilen dorthin. Wo bleibt die emotionale Überlegenheit,
die der Märtyrer braucht?
In andächtiger Sammlung stünden sie vor der steifen Leiche des Freundes.
Bedeutsames ist am Tode wenig, der Abschied kann nicht mehr erwidert werden.
"Was sucht der Erwachte bei den Schlafenden? Das Feuer brennt
in manchem Herzen, davon abzugeben; so fürchten immer die Mächtigen,
die dich als Brandstifter strafen wollen."
Spricht Ahasver und geht hinfort.
5. Kapitel
|
Die Stadt wäre von einer aufgebrachten Unordnung zerrüttet. Regierende
formieren sich um. Neue Gesichter sollen Stabilität wieder herstellen.
Mancher griffe nach freien Posten. Ein Beliebiger berufe Ahasver zum zweiten. Nach welchem Sinn entscheidet der
Zufall?
So würde er gerufen vom Premierminister, zum Amtssitz, vor dem er hoch schauen
gezwungen sich fühlen soll, obwohl er den Wicht, der dort eine Urkunde
hält, noch aus der Zeit des Plänesuchens kenne und ohne verbliebene
Achtung; überreiche dieser also den Vertrag zur Führung der
Geschäfte im Ministerium für irgend eine bürokratische Staatswichtigkeit.
Der große Sessel, den Ahasvers Vorgänger bethronte, lächerliche
Dokumentation, würde entfernt vom Arbeitstisch, denn das bequeme Sitzen ist
nicht vereinbar mit Arbeit. Mit welcher Klarheit richtet sich das Rückrad
in die Aufrechte auf einem ungepolsterten Holzstuhl; strenger werden die Gedanken.
Die Repräsentation ist jenes Stadium des einstmals kraftvoll Vorwärtsstrebenden,
welches bereits die Periode von Versammlungen und Konzeptionen hinter sich
brachte. Dahin will jede Karriere den allzu Eifrigen knebeln.
"Uns selbst macht es froh, wenn durch unser Tun ein anderes Glück
sich mehrt, doch ist es immer nur die Freude über deren Abhängigkeit."
" So ist dieses zweien zugetanen Menschen, die da glücklich scheinen
in ihrer Zuneigung, doch der Schmerz zur einen und die Sklaverei zur anderen
Seite."
Wer will, zweifelt nicht. Das ist die Diktatur der Meinungsfreien. Wie kann
man tolerant gegenüber dem Untoleranten werden?
Die Freiheit gewechselt gegen einen guten Posten. Der zottige Bär bekommt
im Zwinger seine tägliche Ration, ohne Furcht vor Hunger, allein dass
er beglotzt wird von Spaziergängern. War er, bevor ein Fänger ihn
als Beute nahm, Herrscher im Gebirge und des Herrschens sicher und des Frierens
im Winter sicher und des Hungers, wenn der März noch mit dem Schnee kämpfte,
doch immer war er seiner Kraft gefürchtet. Der Tiger im zoologischen
Garten, eine Rindskeule ihm beiläufig hingeworfen, wird seiner Pacht für
ein Eintrittsgeld bewundert.
Das Voran einer Gesellschaft ist gebunden an das Sein von wenigen Führern;
doch die Freiheit aller anderen hemmt die Schaffenskraft derer, die mit ihrer
Freiheit einen Anfang wissen. Daher ist Gleichheit und gemeine Gerechtigkeit
ein grausames Hindernis für die Gesellschaft, gleich wie sich die wenigen
Triebkräfte des Weiterkommens behindern.
Wer aber mag die Auslese treffen? Unfähig dazu wäre ein jedes Glied
im Staate; darum muss eine jede Ordnung mit diesem Widerspruch leben.
Zu allem deklamiert ein Mächtiger:
"Mein Freund, die Armen brauchen das Geld
der Reichen, und die Reichen brauchen die Arbeit der Armen. Der eine braucht
den anderen als Gebender; sind sie Sklaven einander"
Der Versteller kann
sich verkleiden aber nicht ändern.
Als Diener der Macht, mit Macht befugt, Begegnung des Freundes mit der Freundschaft
des Hammers, Begegnung der Liebsten mit der Liebe der Sichel. Zwischen zwei
Parteien schlichten mit der Faust. Die erste Partei verlangt Verbot und Strafe,
die zweite eine Legalisierung der süßen Drogen. Alle wissen um
die wahre Funktion des Staates: Die Widersprüche zu verschleiern. Alle
vertuschen ihr Wissen und mühen sich in Geschäftigkeiten.
Besitzer kann man enteignen, Mächtige kann man entmachten, das Windigste
aber in allen Bereichen, den Handel kontrollieren zu wollen, ist nur in einer
Katastrophe zu bändigen. Einer dieser Kontoren käme in der Erfahrung
mit etlichen Vorgängern, die alle früher einmal Reformen anstrebten,
zum Staatssekretär. Immer meldet sich ein Vorteilsucher:
"Führe den Straßenbau an meiner Halle vorbei! Gib mir deine
Rechnung, ich werde dir meine in gleicher Höhe aufmachen. Dann können
wir beide nachweisen, soviel uns beteiligt zu haben an einem Projekt zum Gemeinwohl
und bekommen aus dem Staatssack für unsere Ausgaben auf unsere Belege
noch einen Zuschuss."
Und damit der Sekretär die Entscheidungen delegieren kann, ist ein Sachverständiger
mitgebracht, der Antwort und Lohn schon vor der Untersuchung kennt. "Komm, du sollst uns
dienlich sein zu unser dreier Vorteil - und bringt es nicht Gewinn, so bringt
es doch nützlichen Verlust als Zuweisung, der dann vergoldet wird, wo
ein anderer Gewinn deshalb an der Steuer vorbei geschlichen werden kann. So
ist mir dein Verlust, wenn ich ihn finanziere, doch über Jahre hinweg
ein freundliches Aufgeld."
Mit Schenkungen durch die Lebenszeit sich schleichen; Entscheidung von Nützlichkeit
und Fortschritt oder billiger Vorteil.
Das Geld beherrscht die Gewohnheit: besiegt alles. Wenn das Geld es möchte,
wird der Gutgläubige zum brutalen Opferlamm. Die Angst vor dem Verlust
bestimmt die Freundschaftstreue. Selbst Verträge werden gefälscht
und die Einfalt lässt vergessen, wie schnell ein Kläger die kleinen
Schummlereien vor den Gerichtshof zerrt. Nur eines schützt den Vertrauensvollen:
Verschenke dein Vertrauen nicht, übe deine Wortgefechte! Es gibt eine
Schwelle, die nur schwer man erklimmt und Jahre sich schulen muss, eine fiktive
nichtfachliche Distanz zu überwinden, die am augenscheinlichsten der
entflohenen Jugend anlastet. Ein erreichbarer Abstand wird fliehend ergriffen,
einen Kontrapunkt zu bieten, um sich zu trainieren im Streit. Die Fakten,
die man versuchsweise anbringt, sind völlig nebensächlich und nicht
das Interesse wert. Ein Disput verzichtet besser auf den Tatbestand, es genügen
die kampfbereiten Seiten.
Der Staatsgründer braucht sein blutsgeborenes Recht der Abstammung, den
besseren Genossen, erhoben über die Barbaren des Nordens, über die
Wilden des Südens oder über die Kindischen jenseits des Ozeans. Die
Republik basiert auf dem totalitären Anspruch ihrer Überlegenheit
und zielt auf Umerziehung des Volkes, nicht auf die kurzzeitige Internierung
einer Tyrannenherrschaft. Daher sind die Lager der revolutionären Umerziehung
auf Dauer eingerichtet. Anders der Tyrann, der gefangen hält, um abzuschrecken.
Wie sind wir nicht ziviler geworden von der jagenden und sammelnden Sippe
zum regierenden Apparat: Herrschend über uns. Wie soll unser Vorfahre
jemals friedvoller Savannenläufer gewesen sein, der den Horizont nach
Feinden absah? Sind die Augen des Menschen
doch die Augen eines Jägers. Es sind unsere Füße nicht gemacht
für eine endlose Flucht. Der Widerstand war schon die Rolle des Neandertalers.
Und mit den gleichen alten Waffen muss der Mensch noch heute seine Feinde
erkennen.
Doch was heißt: erkennbar? Auf eine Frage eine Antwort wissen, ohne einen
Widerspruch hervorzurufen - der Hang zur Tautologie? Von der Erscheinung zu
abstrahieren, also eine Erklärung zu wagen? Es läuft alles auf das
Problem einer guten Sprache hinaus!
Für den wahrhaft Suchenden ist die Erkennbarkeit das Finden eines universellen
Prinzips, erklärbar für einen Prozess ohne Beteiligte; denn nehmen
Dinge, Wesen, Menschen, selbst tote Körper teil, wird jedes Prinzip gestört,
wie das Minimalprinzip der kleinsten Wirkung: So gewaltig es sich behauptet,
muss es jedes Individuum verbieten, selbst wenn der Interpret den erkennbaren
Werdegang in tausend Elementarprozesse zerstückelt, auf dass jedes Kleinstereignis
diesem Minimalprinzip gehorchen müsste, doch das Einzelne stört.
Käme ein einstiger Freund, einer der treu sich geblieben, von
der Macht sich fernzuhalten, und mische sich in die Rede:
"Wenn wir uns erhöhen, bleibt das Niedere doch in uns. Mit vergessenen
Schmerzen beladen kraucht der Kranke aus dem Dunkel ins Reden der täglichen
Mühen, sich einmischend. Was hast du verloren hier unter denen, die dem
Zueinander vom Morgen bis zum Abend nicht rasten, der Kinder und Ducker Mäuler
zu stopfen unter Greisen und Fetten, nie sich selbst den Tag zu lohnen? Bist
du einfältig geworden, glauben zu machen, in der Welt der Mengen und
Dinge etwas ausrichten zu können mit einer fixen Idee? Du nennst es Gleichheit
und hoffst der Anderen, wohl mit Wählern liebäugelnd, dich als Retter
ihres Lebens willkommen zu heißen? Schön hören sie dein Schmeicheln:
Gleichheit in der Richtbarkeit sei frei? dass Gleichheit im Reichtum sie reicher
mache? dass Gleichheit an Kraft sie friedvoller mache..."
Der Emporene stammle:
" Der Gesellschaftsvertrag, des der Freiheit erträumt, muss dienen,
die eigene Zucht mit eigenen Gerten zu erhärten und mit eigenen Klingen
allzu freie Triebe gnadenlos zu beschneiden, auch mich."
"Wo aber
sind deine Geißeln? Wo sind die Wunden deiner Eigenzüchtigung,
die nicht nur Worte bleiben? Wann ist dein Herz verdorrt? Verantwortung ist
Mut, Mut zur Erfahrung. Vollbringt die Stellung Angst vor der zu lebenden
Zeit?"
"Es ist nicht", erwidert stets der Obere, "was du unter großer
Politik dir erdenkst, mein Produkt ist noch immer ähnlich dem des Schlossers,
der zwei Träger aus Stahl sauber zusammenschweißt. Gewaltiges ist
wenig darin. Revolten und Umstürze sind eine gute Sache, leider aber bedürfen
sie der Menschen. Diese aber sind immer von Faulheit und Bequemlichkeit ergriffen.
Das ist ihr ewiges Leid, die Ursache für jeden Niedergang und jede Stagnation.
Gäbe es die Menschen nicht, so wäre eine Veränderung zum Guten
ganz einfach; so nun aber bleibt alles beim Alten."
In Arbeit von Papier und Akten erstickt jeder Elan. Entscheidungen werden
immer mehr nur in Kennwörtern und Vorgängen nach Nummern abgehandelt.
Arbeit ohne Aussicht; hinzu kommt der Neid.
Jeder Nachbar steht unter Verdacht, dass es ihm gut
geht. Das Leiten und Regieren erschöpft sich in stumpfes Verwalten, und
es kann die drohende Pleite nicht mehr aufhalten. Da aber alle im Apparat
diesen unabwendbaren Fall angeschlichen kommen sehen, trachtet jeder eifrige
Begleiter auf die eigene Unschuld vergangener Entscheidungen, hofft auf ein
Versprechen des öffentlich Geachteten. Über dem Strom der Alltäglichkeiten
bricht eine Brücke unter der Schwingung unbedachter Marschierer im gleichen
Schritt, sodass ein braves Gebäude des Hinübers einen beschaulichen
Menschenzug unter sich begräbt. Wes Fehlentscheidung kann geprügelt
werden? Ahasver würde bestellt zum Minister, um den insolventen Mechanismus
durch das Abhacken von Entbehrbarkeiten miteinander zu besprechen:
"Die friedliche Politik ist nur die Fortführung des Krieges mit
scheinheiligen Mitteln, aber verzichten auf die bewährten Kriegsrechtsmethoden
brauchen wir doch nicht. Der Masse aber wollen wir Rechtssprechung vormachen."
Das sicherste, unverfänglichste Mittel in den Zeiten des Verkriechens
ist die Beauftragung einer Untersuchungskommission: Was verspricht sich nicht
alles die öffentliche Ausrede von einem Sachverständigenurteil:
Alibi des Richters: Harmloses Übertragen der Entscheidungen auf die Kompetenz
von Aufschneidern, die durch Gutgläubigkeit der Masse autorisiert wurden,
frei aber von Rechtsverantwortung sind und also nicht der Verantwortung sich
stellen müssen, gründen sich die Gutachter doch nur auf solche absoluten
Gültigkeiten, die vom Pöbel verstanden werden können. Wo aber
ist der Zweifel? Wo aber ist der musikalische Wert? Alle Reden sind billig.
Geschäfte machen in einer Existenzangst aber in vergoldeter Umgebung
zimmert die Furcht vor dem Sturz, vor dem Gestoßenwerden, macht aus
dem Geschäftsmann einen Rivalen gegen alle. Was sollte er denn fruchtbares
an einer Konkurrenz finden; die Konkurrenz ist ein Mittel der Verdrängung,
und ihr Ziel ist der Konkurs des Anderen, dessen, der wieder an einem fremden
Ruin sich freuen würde. Wagt jetzt jemand, Partei zu ergreifen? Aus der
Vergangenheit stranden immer wieder Fetzen an die Ufer des Tagesgeschäftes.
Gegenwärtig sind die Toten; blind stellen sich täglich die fleißigen
Menschen.
Es ist keines Recht, Leben zu nehmen. Wer fällt das Urteil, Morden oder
Selbstmorden als geächtete Straftat durch die höhere Staatswelt
zu bestrafen, und wer wagte es einst und wagt es heute, Verständnis zu
dokumentieren? Und bittet einer: morde mich, denn ich erleide große
Qualen, befreie das Leben von der Unwürdigkeit, so bleibt es doch Mord.
Dieses Unrecht schafft anderen das Recht, den Mord zu ächten. Mord dem
Morde! Frei bleibt er niemals. Was wagt der Ahasver, von Gnade zu sprechen?
Härte bekommt das Lob, Gnade erfährt nur Verachtung.
Die Masse fragt: Wie sauber ist deine Vergangenheit, bist du ein Geldwäscher
oder ein Terroristenfreund, bist du gar ein Vertriebener vom verlorenen Stamm,
einer vom Volk der Täter? Wie aber könnte Ahasver ein Volk haben?
Kann doch der Ungläubige nicht an Glauben sein Vertrauen schenken und
Irren vor dem Ungeglaubten, dass er kommandiert wird. Verleugnet von denen,
deren Inbegriff er für andere wurde. Von Exilanten ins Exil verbannt, zweifache Diaspora. So ist er nicht verflucht und nicht vertrieben, auch nicht
verstoßen vom Gentil; auf jeder Strasse wird der Zins an andere Strassen
aufgerechnet.
Aber über eine Zugehörigkeit entscheidet jede Stadt in ihrer eignen
Arithmetik: in Jerusalem ist jeder Israelit, der eine Mutter dieses Stammes
hat, in Nürnberg wird jede Elternschaft in Zähler und Nenner sauber
aufgerechnet.
Ein Strafrichter pocht auf das gerade gültige Recht, egal welcher der
Staatsmänner ein beliebiges Programm und Gesetz proklamierte, gleich
dem Lehrer, der sich auf die gerade moderne Pädagogik beruft; begründet
der klagende Anwalt wie auch der Verteidiger um der Gesetzestreue, mitnichten
aber um eine Schuldfrage zu klären.
In dieser Weise fordern auch die Bänker ihre Gelder nur um des Forderns
Willen. An den Verhandlungstisch getreten wird jeder Cent und jede Million
zum gleichen Gegenstand, nur für denjenigen gut, der seine Argumente
in eine geschickte Zwangssituation hineinbringt - Vernunft spielt keine Rolle.
An diesen Zinsgesprächen hat sich seit tausend Jahren nichts geändert:
Je härter das Auftreten gegen den Verhandlungspartner, desto höher
wächst die Achtung. Die Schmeichelei des Aufblickens ist der Applaus
des politischen Schauspielers, von Spielstätte zu Spielstätte, immer
weiter in der Kariere, immer abstrakter. Die Entspannung am Ziel ungreifbar
kurz; kaum steigt man herab vom Siegessturm, ist schon das nächste Wagnis
geplant.
In jedem verbindenden Traum - eine religiöse Gemeinschaft, ein Nationalstaat
oder nur eine soziale Struktur - gibt es einen eingebauten Bremser: den menschlichen
Eigensinn! Dies ist die Voraussetzung für die Nichtexistenz einer funktionierenden
Gesellschaft, denn eine solche könnte nur von erbfreien Wesen geschaffen
werden, oder von Wesen ohne Selbstsucht.
Verborgen vor den Blicken der fetten Beamten erschlaffe ihm das Gesicht und
falle in tiefe Falten, die Arme hängen müde von den Schultern,
die Lider drohen zuzufallen, dem Geist ist jedes Lachen große Mühe,
die Puppillen schauen blind nach vorn, wo nichts ist. Gedanken können
sich nicht sammeln und streifen wirr umher: in allem nur Erschöpfung.
Ausgelaugt sänke der Körper auf den Stuhl und denke an eines nur: an
Schlafen, und kann doch den Schlaf nicht finden. So gemergelt die Gedanken
auch, der Kopf nicht mehr gehorchen will, so vermag doch das Überlegen
keine Sinnung erbringen: Für wen dieses Abhetzen? Um welche Art dieses Grübeln? Will doch keinem dadurch geholfen
werden. Noch möchte irgendeiner sich daran erfreuen. Am allerwenigsten
er selbst.
Wer den Gipfel erklommen, kann nicht weiter steigen. So steht Ahasver wieder
auf dem Scheitel zweier abfallender Flächen. Zurück in die Klarheit!
Wohl der elementaren Sorge! Wohl der Sorge um das tägliche Brot? Besinnen
auf die Energie, seines Lebens größte Mitgift!
Erbarmungslos langsam verrinnen die Stunden für den Erbarmungslosen.
Jede Hilfe ist Arroganz. Und wird doch nur erschöpft dadurch. Gäbe
es doch wenigstens eine Witwe oder einen einsamen Greis, der einen Hauch von
Freude dadurch empfinden könnte, oder einen Bissen Brot seinem Magen;
doch sind seine Taten für diese Luft zu viel.
Tröstende Dummheit, dass in früherer Zeit die Lust und das Sein
eine Einheit verband. Steckt es im Menschen noch, das Alte, nicht Vergessene.
Als Eigen- und Gemeinsinn verschmolzen noch waren, konnte keine Herrschaft
eines Einzelnen existieren, doch da vergingen sich noch Aasfresser an unseren
Leichen.
Unbegabter Tod eines geschäftstüchtigen Lebens. Der Mythos vom gerechten
Verwalter. Züchten nicht die Menschen immer wieder Kinder, die keine
Märchen brauchen? Der Mythos, er gehört der Kunst, belasset ihn
dort, Regieren bleibt selbstsüchtiges Machstreben, und die Kunst, was
wird aus dieser Hure? Fühlt man unterdrückt
sich, bleibt das Theater nur eine politische Institution. Schwelgt das Volk
im Reichtum, verkommt die Kultur nur noch zu einer Wirtschaftseinheit. Und
viel schlimmer als den Werken ergeht es den lebenden Beziehungen zwischen
den Kreaturen.
Wer nach Neuem strebt, darf sich nicht an Zeitgenossen messen: Dass er selbst
voll Pflichten ist, der Körper ruft:
" Ich brauche, hilf!"
Und braucht auch Wasser und auch Brot; es ist schon genug.
Was alles die Sinne von der Außenwelt erfahren, es heißt, sich
wahrnehmen, das stammt bereits aus einer Vergangenheit, sei diese noch so
nah am Jetzt, so ist sie doch vergangen, ehe sie gelangen kann zu ihm, um
dann von ihm erkannt zu werden. Die Sorgen anderer, die um ihn oder mit ihm
leben, sie sind das Ärgste: das Keimen selbst ist schwer genug, wenn
fremde Sorgen plagen. Doch wie, wenn dieses Keimen ein Neues, Fernes tragen
soll.
So spricht er zu sich:
"Ist es besser, wenig zu tun, zu bleiben und dafür untreu zu sein?
Ist es besser, nichts tun zu können aber treu? Entscheidungslosigkeit,
die mich umfängt, gehört nicht in feste Häuser. Hinaus! Hinaus
in den Dreck!"
So ist ihm das Gehen willkommener Ausweg, doch keine Lösung. Flucht nur.
"Die Entscheidung zu bleiben ist stark für den Wanderer. Die Entscheidung
zu gehen ist stark für den Träger. Es ist aber Schwäche, sich
nicht zu entscheiden."
Wie gleicht der Diener, der seine Kraft zum Gewerbemarkt trägt, höchstbietend
seine Unabhängigkeit verhökernd, dem gefangenen Raubtier im Vergnügungspark,
dem gefallenen Bären im Käfig. Wie arm ist der Beamte, dass er nicht
hungern und frieren muss.
Sie würden eine Fahndung gegen ihn hängen, und Schimpf würde wüten,
wenn er die Ordnung verließe, doch sein Schritt wäre nicht mehr zu halten.
Er höre schon die Meute hinter sich kläffen, ohne dass er etwas
ändern könnte, ohne dass es eine Drohung gäbe.
"Später die Haft kann den Schänder nicht bessern.
Rau ist das Wort, schlaff wird des Stolzes einstige Schönheit. Keiner
kehrt zurück in die Unschuld, niemand erreicht das versäumte Kind."
Spricht Ahasver und geht hinfort.
6. Kapitel
|
Der Aufgestiegene sieht einen schmalen
Platz auf der Anhöhe, vor ihm ist keine Stiege, die noch höher führen
könnte, nur steile Stufen die nach Abwärts gehen. Im Rücken
drängen bereits die Nachfolgenden, die lauern und warten, müssen
nicht schieben, denn das Weitergehen kommt von selbst, auch der tiefe Gang
nach unten. Noch strahlt das erhobene Haupt im Gipfelleuchten, da dröhnt
die leere Kasse bereits nach einer Rechenschaft. Denn letztens entscheidet
über die Sprosse nur das Gold. Jeder andere Reichtum
findet Verachtung.
Begrüßt den Fliehenden noch der hinterher geeilte Finanzkaufmann,
der einstmals so gierige Vorschläge machte:
"Sprich, wie komm ich an mein Geld zurück?"
Der den Gipfelsteher schiebt zum Abgrund wird der nächste sein, der geschoben
wird; darum weiß jeder Günstling und bleibt möglichst auf
der halben Höhe schwimmen. Verharren zwei Gläubiger, auf dass es
stagnieren möge. Der eifrige Sparer wird nicht gegrüßt vom
Bänker, der Wucherer grüßt aber immer den Hochverschuldeten
bei dichtem Nebel noch aus großer Entfernung.
Es ruft ihm: "Hinter sich lassen! Davon schreiten!"
Was vermag er zu erwidern: Dass die Tugenden des Reifen glänzende Fehler
sind?
Besinnung auf den Körper - Sieger bleiben durch beherrschende Kraft.
Kein Falkner wagt es, einen hungrigen Adler zu bestrafen.
Ein gedankenarmes Wortgefecht bleibt im Kopf reflektiert - gehört: erwidert
- ohne in den Körper Eingang zu nehmen. Umsonst den Menschen getroffen.
Denken und Fühlen: Aufnahme über die Sinne - mit dem Blut geflossen
- zum Zentrum gelangt - geformt - zurück in die Glieder und ausgesprochen, nicht getan.
Welcher Trug vom unteilbaren Gewissen, das uns verpflichtet ist, uns richtig
in die Position zu bringen; müssen wir gehorsam dulden und trotzdem unser
Herz nicht schließen; drängt sich der Wunsch, nach Punkten zu verteilen,
das Gewissen schließlich abzulegen.
"
Die dich einst begleiteten, können
sie dir in der Zukunft noch Glauben schenken?"
So spricht er:
"Lehre nicht von der Kanzel, zu der du einst hinauf blicktest mit offenem
Maul; frühestens als Greis. Was soll noch kommen? Wie viel Söhne
sind gezeugt und schon erwachsen?"
Häscher gürten sich zur Hetzjagd wider ihn, der Verfolgungswagen
starte den Motor. Das Ritual des Fangens wird gebraucht, die Demütigung
des Richtens. Bildschirme flimmern mit seinem Bild, als Feind verzerrt. Dennoch
fliehe er: Nicht aus Furcht vor dem Strafmaß, er fliehe vor der Knechtung
einer Rechtssprechung. Und dann der Vollzug, wie stumpf; und verhindert
nicht den Sturz.
Ein Liquidator bürgerlicher Gesetzesauffassung säße ihm gegenüber,
rechne auf, was eigentlich eingebracht wurde als Stamm und als Aufgeld. Die
Klüngelei der vielen Verstrickten verschwindet hinter einem Berg von
Ordnern, Akten, Ausdrucken und Belegen. der Raum fülle sich immer mehr,
und die Fenster seien bereits zugestellt, sodass kein Sonnenlicht mehr Beleuchtung
bringt. Es passen zwei Zahlen nicht zueinander - das Resultat der Befragung,
wenn es an den Abrechnungs-Ausschuss gelange.
Hohn der Schuldzuweisung: Einen Söldner zu opfern. Der Abwesende wird
wie immer benutzt für den Gewinn aus der Niederlage.
Angehalten von den Mitgesellschaftern, noch etwas geradezubiegen, was zuvor
unsauber in den Geschäften verbucht sich findet, doch wie lang hält
eine zurückdatierte Korrektur, dass so streng man alle Einzelheiten
in die Erinnerung ruft: Ein kleiner Fehler, der allein zwischen zwei Zeilen
in das Rechenwerk sich schummelt inmitten Dienstpflicht und Gefälligkeit
für den vertrauensvollen Bearbeiter; schon pocht der Straftrichter: Bereicherung
für deinen linken Nachbarn, Widerrecht der Bevorzugung, denn einen Rechten
gibt es auch. So überredet den Herabfallenden ein jeder zum kleinen Betrug,
da das Kleine doch nur klein ist.
Wie nah ist ein Verleiteter an der Grenze einer Verlockung. Und schon
steht ein Gesetzeshüter mit Handschellen zum Gruß.
Der Kerker selbst ist keine Schande, Bestimmung, die jeden treffen kann; mancher
verschläft, die anderen aber müssen es dulden. Was kann ein Lied
dafür, im Gefangenenlager gespielt zu werden. Die Harmonik ist immer
romantisch. Welche Wehmut überkommt das Herz, liegt verzerrt, zu eigenen
Zwängen nötigt die Tat, verabscheut schon, wenn die Gedanken dem
Geschehen, was sich im Inneren drängt, vorauseilen. Drohend bewölkt
sich zu einer Zeit, die Gutes und Glückliches noch verspricht, langsam
mit Dunkelheit bereits der Himmel, der eben noch ein Lachen barg. Vom eigenen
geht aus, was vernichtet; Zerstörung erzwingt sich nicht von Außen
- sie schläft im Frieden, wartend, gleich diesem Jungen, aus einem Slum,
die Eltern von Alkohol und Armut hinweggerafft, schafft er es
nicht, der Schwelle seiner Hemmungen zu widerstehen. Wo er es vermag, wendet
er, selbst wenn er sich wehren möchte, was manchmal gelingt, öfter
erreicht er seine Beherrschung, doch steckt es im Menschen seit der Kindheit
drin, dass über ihn seine Verdrängung kommt und kein klarer Verstand
ihn dann vor sich selbst schützen kann. Und so ginge es Ahasver, worauf
er zerschlagen seinen Kopf senke, so leicht man versucht, sich vor sich zu
verstecken. Wie es doch jedem so ergeht - es muss ein jeder leugnen. Nur die
strenge Disziplin - sie ist stets Arbeit gegen das Selbst - kann schützen
ein wenig: bei Einfältigen ein wenig mehr. Wer will es verhindern, zeigt
sich die Gelegenheit, wenn die Beherrschung die Zügel mürbe werden
lässt, ergreift das unglückselige Geschick, und zerbricht auch den
Kahn an einer Tat, der nachzugehen ist, obschon er sich weigert, mit den Füßen
sich stemmt, es ist nicht abzuwenden, denn der Wille ist nicht frei. Nur wenn
man glücklich sein Selbst würgt, vermag man sich einzubilden, des
Willens frei zu sein.
Kein Mensch ist es, der das Gehen ihm schon wieder ruft, kein Geschöpf
ist es, das ihn zwingen will.
Allein das Allumfassende klingt einen solchen Ruf, das Ganze, welches unteilbar,
gleichzeitig oben und unten ist: "Ahasver Geh!"
Unteilbar ist nur das Ungeteilte. Das Allumfassende kennt die Bewegung nicht,
kennt kein Entfernen oder Kommen, kennt ein Stehen nicht. Es ist. Ohne Zeit
und ohne Ort. Das Einzelne aber, jenes das dem All angehört, muss eilen,
muss gehen, jedem Winzigen tönt der Befehl.
Und es ruft ihm: "Geh!"
Denn alles was Teil, muss fließen.
Es hebe an zu wissen ein Leidloser unter Erhellten und spräche: "Unteilbar
ist die Erleuchtung, aber sie ist nicht für den Menschen." So lehre
er seinen Getreuen, die wie ein Fußvolk ihm sind. "Die Existenz
der Unwahrheit ist nicht wahr." Schön ist die feste Lehre, schützend
vor den Gewalten des Zweifels, mehr noch jene Schwaden, die Wahrheiten schwängert
mit dem was unmöglich ist, dass ein Erbe niederkommt in die Welt der
Welten, welcher Unwahrheit trunkend nach Weisheit strebt.
Wehe, thront doch der Mond so blass wie das eigene Angesicht, und auch die
Hände, halb stützen sie den Kopf, halb zerfurchen sie das Haar.
Wie ist der Augenblick seines Scheines doch ein Spiegel im Erlebten, im
Gewesenen, im Geendigten - unvollkommen sitzen in der gleichen Krümmung,
nichts bewegen zu wollen, das Wollen in der Untat, trunkend vom Zögern,
zweifelnd ob des Flusses eigenen Geschicks. Zieht ihn tief hinab in die feuchten
Nebel, hinter welchen listig die Schlucht grinst. Ist es doch gut bekannt,
wie das Wiegenlied der Mutter, wie des Bruders fester Händedruck. Doch
woher soll Neues sich ergründen, gleich dem hellen Mond, dem doch jegliche
Wärme fehlt.
Ist für einen Tuenden das Enden oder Beginnen ein Leichteres; oh nein,
doch immer liegt im Beginnen das Ende schon verborgen. Alles ist ein Kreis,
und ewig wandelt es: Enden und Beginnen. Und wenn der Mensch das Licht scheut,
scheut der Schatten den Menschen. Wie untüchtig und belanglos um ihn
herum im täglichen sind die, die sich Mitmenschen heißen in ihrer
Einfalt.
Gebe dem Friedmale deine Opfergabe: metze den Widder und sprenge das Blut
um den Platz der Schlachtstatt!
Wenn er die Zugvögel beobachte im Herbstwind, wie sie sich zum Keil ordnen,
zum Süden sich aufmachen. Was interessiert es die Kraniche, dass wir
ihrer Erhabenheit huldigen?
Der Kranich erblickt ihn, wie sich der Mensch verbeugt, und lächelt.
Nimmt er vom Leben Schönes und Bitteres mit?
"Jedes Gefühl schützt den Menschen auch; selbst
Angst, die schützt vor unachtsamen Taten, Trauer schütz
vor Kälte, Bitterkeit schützt vor verlassener Liebe, Liebe
schützt vor wilden Stürmen, Hoffnung schützt vor der
Einsamkeit der Seele, Romantik schützt vor dem Vergessen, Vergessen
schützt vor dem Wahnsinn."
Spricht Ahasver und geht hinfort.
7. Kapitel
|
Es ist ein alter Erfahrungssatz, dass der Mensch aus der Geschichte nicht
lernen will. Wohl könnte er lernen, sogar begreifen, doch offenbar ist
der Trost der Blindheit stärker, und er heißt, das Spiegelbild
nicht zu erkennen. Es nutzten alle Erlebnisse nichts, noch einmal in die gleiche
Grube zu fallen; so stehe Ahasver mit einer neuen Wiederholung und doch nicht
klüger vor den gleichen Strecken.
Der Abstand wird größer, und noch viel mehr als er, fliehen die
Feigen ihn.
Neidvoll, doch, sei Dank, selten auch, die Zugeknöpften, sie drückt
kein Straßenstaub so schwer, dieser wunderbare Befreier, weil er verachtet
wird. Aber selbst in diesem Dreck gibt es immer wieder Begleiter, die das
Schwere sich teilen. Trost der Geächteten in allen Zeiten.
Spricht ein Weggefährte:
"Neugier und Drang, was ich achte, doch was ich hasse: die satten Fresser.
Wissend der eignen Pracht, ist bereits ihr gefälliges Entschlummern vor
den Zielen jener, die Welt zu bestimmen suchen. Diese Besitzer, wie sie sich
die Reste der fetten Mahlzeit aus den Zähnen stochern, Angestellte, das Haar zurückwerfend, auf eine günstige Gelegenheit
wartend."
Ein zweiter:
"Nur dieses steht zur Wahl: Macht oder Elend, das Mittelmaß aber
ist zu verabscheuen. Schon der Halbwüchsige muss sich entscheiden."
Andere lassen ihren Zorn heraus. Das Fluchen greift der Wind auf, der es duldet.
Klarheit und Schönheit haben nichts miteinander gemein. Die Gosse ist
das Ziel, und die Armut ist der reichste Stand. Den Rinnsteig mag
er nicht mehr verlassen. Zu bleiben bis zum Ende der kraftvollen Spur. Es
schmückt ein jeder Schmerz wie seine Jahre. Der Wanderstab wird irgendwann
durch seine Nutzung zum Bettlerstab.
Das Gewöhnliche wird immer zuwenig bleiben. Es ist das Leben ihm nicht
genug, dass irgendetwas genügen könnte:
Als Junge will man den Kosmos und kann seine Unendlichkeit nicht ertragen.
Das Finden befriedet - reicher ist das Irren. Gebt sie zurück, die Ruhe.
Wer Fragen sucht, wird Leuchten finden, doch wer Liebe sucht, wird immer des
Findens zu missen gezwungen bleiben, dem wird der Liebe wahrhaftige Spur sich
verwehren, denn Irren und Ankommen sind widerstrebend in ihrer Einheit. Er
sah den Freund, den Bruder, der ein ganzes Jahr sich zurückzog, um sich
Klarheit zu ergründen, ob er lieben könne. Er fiel und fiel und
immer tiefer. Dann sandte er eine einzige Zeile, und es kam über ihn
eine Zärtlichkeit, und siehe da, sie blieb eine kurze Weile.
Der Wandel, der jeden von uns grüßt, er geht an keiner Tür
vorüber, er trifft die bravste Mutter und den ärgsten Schurken.
Womit will er vergleichen, wenn nicht mit der Vergangenheit; wie aber steht
sie ihm da? Verfälscht ist die Erinnerung von der verflossenen Zeit,
gleich wie festgehalten.
Das Schafott trägt keine grünen Zweige; es wird ohne Freude vom
Henker aus abgestorbenem Holz gezimmert. Die Laufbahn laufen lassen, der Höhepunkt
kennt kein demnächst.
Wenn Ahasver nun wieder auf die Hilfe der Gosse stieße,
wäre er auch wieder bereit für die Milde eines Treffens. Einen Schimmer
auf dem dornigsten Weg wird es immer geben: die Begegnung. Sie stünde eines
Morgens am Feldrain; nie verrät sie, wie sie herkam.
Wieder greift der Beginn zurück auf das Erlebte. Erklingen fremde Geschichten,
die nach fernen Ländern schmecken, dann breitet sich Poesie aus und beschwert
das Herz. Beginnt es angenehm zu werden, die Wärme zu spüren, das
Gemüt zu wiegen wie ein Kind, die ungesehenen Träume kommen, die
stummen Gedanken: Die Gelegenheit wahrnehmen, die kurze Ablenkung, bevor ein
anderes Zuhören sich vordrängt: die Vernunft des logischen Sinnes,
gleich krallt die Denkart, welch ein gelungener Schutzmechanismus. Die Tatsache,
dass sie ihm noch einmal begegne, kündige ihm Bedrohliches an, doch
wie angenehm jetzt. Letztendlich gibt es immer die Möglichkeit, dass
man den freien Abschied wählt. Ein Sprung in die Tiefe - Befreiung erfüllt
den zersprengten Leib.
Obwohl die Einsamkeit ehrlicher ist, macht die Zweisamkeit wärmer, solange
nicht die Wahrheit richtet und straft. In der Berührung, ahnen sie beide
den Atem des anderen, nähmen sie ihre Hände einander, gängen gemeinsam
durch hohe Vegetation. Üppige Natur bedarf ihre Anstrengung und verdrängt
damit einiges an Sorgen in das Morgen.
Schwermut und Ausschweifung sind Lüste der gleichen Seele. Sie öffnet
sich:
"Man ist in der Liebe darum ungerecht, weil man den anderen für
vollkommen hält."
Verriet Ahasver ihr jemals seine Geschichte?
"Die Ehr, von der Lüge sich abzuwenden, riss mich von den Menschen,
zu denen gehörend ich mich wähnte. Mit der Lüge, mit der Sünde
hätte die Gemeinsamkeit in Tag oder Nacht bestehen können. Nun liegt sie vor uns - verwundet, die Lüge, die Sünde,
die Gemeinsamkeit. Der Mythos der Tugend schwang das Schwert. Einzig die Liebe
vermochte sich vielleicht zu retten, floh ins Dunkel, wartet, friert."
Ergriffe sie seine Hände und verharre vor ihm:
"Hinweg was nur Schmerzen uns bereiten will. Warum mit Dogmen, Tugenden
unser Herz in Fesseln legen? Also bitt ich dich, wenn du lügen kannst,
dann lüg! Für mich!"
Was brächte diese Frau auf diesen Mann, der nicht imstande ist, stehen zu bleiben.
Es kann einen gewöhnlichen Menschen nicht treffen. Normal wäre ihrem durstigen
Sinn, was andre fürchten. Die Schwelle der Vorsicht ist so gering, dass
sie kaum noch sich abhebt, Hemmungen sind geschwunden, der Anspruch taumelt
ins Unbegreifliche: der Blick fehlt, ihn zu messen. Genug ist zu wenig. Das
Maß eigener Liebe ist dem lauen Wind eine Unvorstellbarkeit,
und alles Maß muss wachsen und jede Hürde muss gefräst werden.
Dass sich ein Erkennen formt, dass der Satz sich im Kriege findet, der da
ist: Du bist der Mensch, der meinem Leben zugetan. - Jedes Lieben birgt
den Schmerz in sich, sobald es sich an etwas heftet. So ist der innere Friede
weder so noch so zu erlangen. Sehnsucht des Geistes und der qualfreie
Wunsch liegen im ewigen Hader. Was betrügend dem Schwachen ein wenig
hilft, ist die Verdrängung, vom Äußeren sich in etwas Mittleres
zu rücken. Es hat aber das Sein keinen Mittelpunkt.
Wenn der Zustand des Glücks von der Zuneigung eines anderen Menschen
abhängt, das Lachen des Kindes vom Lob der Mutter, die Freude des Freiers
von den offenen Armen der Braut, so steht bereits der Abschied in diesem Gefühl.
Flucht in die Ausschweifung hilft vielleicht.
Und sie sagt: "Wie gern verzeih ich dir dein Lügen, indem du sagst:
ich liebe dich."
In den Nächten falle sie in lautstarke Träume, die ehrlich
und unverstellt die grelle Angst verräten. Wenn es vorbei ist, ist es so entschieden;
die Furcht darf aber nicht den Widerstand erlauben: Natürlich kann der
Sieche bis zur Mumie gepflegt werden, dass der Tote vom Leichengestank geheilt
wird, dass dem Verabschiedeten noch mit festem Druck aufs Herz das sickernde
Blut weitergepumpt wird.
Am Morgen aber sage sie ihm:
"Wo die Lebenslust sich freie Bahnen nimmt, da ist das Leben nicht nur
Angst vor dem Tod. Denn gelebtes Sein ist immer auch der Anfang und das Ende
des Gelebten. So wie das Sterben dem Leben innewohnend, so ist das Leben,
das sowohl ein Tun als auch ein Ruhen fasst, dem Ende enthalten. Der Tod
schüttet den Grusel über jene, die bangen. Erstarren vor seiner
Macht, die sie ihm selbst nur möglich geben. Vor ihm, der friedvoll ist,
geduldiger Bruder Tod, begleite ich ihn im Leben schon und liebe ihn!"
"So kurz ist die Zeit bis zum Sterben, sie darf nicht verlängert sein
um den Preis der Geisel. Ein Arzt kann nicht helfen, nur fesseln kann er,
an den Tropf hängen, um das Blut zu schänden mit künstlichen
Substanzen, die Abhängigkeit zu verdoppeln, unterwürfiges Winseln
um eine weitere Medizin, noch unterwürfiger zu werden. Aber wer ist schon
des Lebens kraftvoll genug, die Reinheit des Blutes aufrecht zu halten? Muss
es sein!"
Unwürdiges Ende in der Gruft der Matratze, berichte sie, wie viele
Diagnosten auf allerlei Weise Heilung durch Amputation versprochen hätten,
durch Vergiftung des Bösen, sie aber wisse, dass es keine Vernichtung
gibt, die nur das Schlechte trifft, und dass es dazu gehört, was sich
gegen sie formiert, so wie das Ende auch aus dem lebenden Körper sich
geduldig entwickelt, bis die Sichel scharf genug und kraftvoll der Schwung
ist.
Sind die Tage dahin geflossen, hatte sich ein Ergebnis zu erkennen gegeben?
Wird am Ende jemand weinen? Wird den Abschied jemand bemerken? Wie lange würde
sie anderer Menschen Erinnerung noch durchwandern? Ein Jahr? Einen Monat?
Einen Tag?
Des Daseins Pflicht, Liebe zu schenken, zu erwidern, seinen Kindern mitzugeben -
immer kleiner und harmloser wird dieser Anspruch, die kalte Leere des unendlichen
Raumes immer erbarmungsloser, wirklicher.
Hypochondrische Gründe jeder Krankheit: Forderungen des eigenen Körpers
bitten die Empfindlichkeiten um Entspannung, bitten um des Schlafes Schwester: Geborgenheit.
Wie das Kind im Mutterarm leise stirbt bei des Vaters Flucht oder durch der
Mutter Qualen oder durch drückende Enge oder oder...
"Ein Mensch, der erkrankt, gehört in warme Kissen, dass der große
Heiler - der Schlaf - ihn gesundet oder wenigstens besänftigt, und wenn
es Helfer gibt, ist es nicht schlimm. Doch was pfuschen die Versprecher, verschreiben
Pflichtenhefte und medizinische Einkaufszettel, entwerfen schließlich
honorierte Rechnungen. Es kann der Kranke nur gewarnt sein, vor einem sachlichen
Invalidenurteil. Wer kann denn den Versuch ernst nehmen, Geschehenes ungeschehen
machen zu wollen, einen greisen Körper wieder jung zu pharmazieren, Herz
oder Niere auszutauschen, von einem Toten vielleicht, so wie man einen Bolzen
im Gestänge wechselt; wenn der Kopf schmerz, den Schädel aufmeißeln
und das Hirn entfernen?"
Ist es die grausame Verlängerung der Tage wert, ein entwürdigendes
Experimentieren zu erlauben?
"Wenn es so bestimmt ist, gib dich hin; entsage der Gewalt des Hospitalversprechens!"
"Fern bleibe mir jeder Eingriff in diesen meinen Fluss!"
Sie flüchte sich in Rauch und Schein, wie könne er helfen:
ist doch die betäubende Droge nicht krankhaft, ist sie doch nur Symptom
für eine Qual. Doch wir sehen nicht hinein, weil wir unfähig sind.
Und wollen nicht helfen, weil es Geständnis wäre von Schuld und
Versagen. Gebrechen, Resignationen, Folgen des Lebens: es leidet ein Kranker
um seiner Krankheit willen. Beschwerden sind da, nicht um geheilt zu werden.
Linderung: welches schöne Wort. Doch das Siechen soll genommen werden
durch einen Schnitt, und der ist erbärmlich, denn auch ein wundes Herz
gehört dem Menschen. Besser das eigene kranke als ein neues fremdes Herz
in der Brust schlagen hören.
Unerträglich wird der Gedanke, dass sich im eigenen Körper ein Feind
freimacht und frisst, dass es ihn selbst auch vernichtet. Wenn die Erkenntnis
die Reife endlich erlangt hat, dass es für das Weiterleben keinerlei
Grund gibt, dass die Steine des Meeresgrundes bedeutsameres leisten als das
eigene Umherirren, dann ist die ersehnte Stunde endlich da, die Erleuchtung
in die freiwillige Tat. Es bleibt nur noch die Hemmung zu überwinden,
die wie ein Panzer seit frühen Kindertagen um die Einsicht geschmiedet
wurde. Angst vor dem rettenden Schmerz wird sie genannt, doch wahrhaftig ist
es nicht Angst und die Rettung ist nicht Schmerz. Wahrhaftig ist es, das Diktat
der Unfreiwilligkeit. Dem Schicksal gehorchen, also unfrei, geknebelt der
Verwesung sich preiszugeben, oder freimütig dem Ziel entgegen fliehen.
Die Blicke dösen seit Tagen auf die vorüber fahrenden Fernzüge,
entspannt und mit heller werdenden Augen.
Eines Novembermorgens seien ihre Augen endlich so glänzend, dass der Glanz
Ahasver verriete, die Hemmungen abgeschüttelt zu haben. Von einer
Brücke falle eine Erscheinung auf das harte Gleisbett, und der Schnellzug bremse
nicht mehr.
Ahasver kann nichts tun.
Sprachlos sind die Dabeistehenden; die Sprachlosigkeit wäre Wort genug,
könnten sie das Gehen wie das Kommen akzeptieren. Die Jahre lehren, die
Wiederholung des Abschiedes zu erdulden, doch ohne Lehre ist der Schmerz im
Trauerkleid.
"Niemals trägt die Last den Weg, immer trägt der
Weg die Last. Breche deine Illusion, Mensch!"
Spricht Ahasver und geht hinfort.
8. Kapitel
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Am Ziel des großen Weges empfängt einen die Erlösung des Todes.
Wer aber glaubt,
ihn vor seiner Zeit rufen zu können? Die Erlösung, die das Hoffen
war, wird er nicht bringen,
kommt er nicht aus freier Wahl. Die Qualen, die man meiden will durch einen
vorzeitigen
Zwang, beschert der Zwinger sich geballt in einem einzigen Augenblick dann.
Es existiert kein Urzustand und gleichfalls kann auch das Ende nicht mit Chaos
oder Ordnung beschrieben werden. Jeder Schluss ist transzendent. Dem Anfang
gilt gleiches.
Ist das gelebte Leben von Schuld und Sünde überladen, so ist doch
der Leichnam wieder fromm.
Das Mitleid im Obdachlosenasyl wird Ahasver hassen und treten, bekommt man
das Mitleid geschenkt, doch es soll nicht geschenkt sein, es soll verflucht
sein! Ist die Straße denn nicht immer noch gastlich genug, und liegt
nicht überall Sand, in ihn zu greifen?
Mit Würde die staubigen Straßen passieren und kein Ducken oder
Bücken wird jemals ein Wagenlenker erblicken. Erhoben der Scheitel und
stolz das Gesicht nach vorwärts, auch wenn zerfressen die einstmals weichen
Züge. Besitzt der Gejagte die Freiheit, den Menschen zu begegnen ohne
erhöhte Position; wer sich der Vollendung schwanger wähnt, der weint
nicht mehr, selbst wenn er noch nicht lacht.
Ohne Barmherzigkeit ist dieses, weil ein Freiwilliges dahinter steht.
Ohne Abscheu ist dieses, weil ein Ausweg möglich wäre, auch wenn
er nicht erwünscht wird.
"Nichts, was da noch ungeahnte Wünsche übrig lässt, obschon
ich nimmer satt sein kann."
Das fließende Wasser lehrt das geduldige Warten auf die Geschehnisse
der Veränderung. Am Fluss sitzend wird das Auge Sieger, Verlierer wird
die Hand, denn das Auge staunt über das Fließen, aber die Hand
kann nichts verrichten. So wie der Bach von oben nach unten sich über
Steine spült, hat er Vergangenheit, die einmal Regen war, und hat er
Zukunft, die das Meer sein wird. So weiß das Wasser im Bach um das Gewesene
wie um das Zukünftige, hat aber die Quelle schon längst vergessen
nach den vielen Stromschnellen, weiß auch noch nicht um den Ort der
Mündung. Die Zukunft ist wie die Vergangenheit: Im Schleier der Phantasie
geborgen, ohne Kenntnis. Lediglich, dass für ehemaliges Zeugnisse und
Narben existieren wollen, die als Überlieferungen feste Muster des Denkens
meißeln.
Ist Ruhe oder ist Fließen? Sitzend und erkennend am Ufer verspürt
er einen kleinen Frieden in sich aufsteigen, die Unveränderlichkeit und
den Unnutz der Frage nach Sein oder Gestalt. Begreifen wäre der falsche
Ansatz.
Zu denen, die domestizieren: das ist das. Die da endlich und endlich wieder
kommen, den Punkt zu fühlen. Von den Weiten sprechen, also wähnen
sie, Wellen fremder Energie und Kraft zu spüren; doch Wissen kommt erst
nach dem Denken. Erst wenn sie nicht mehr denken, vermögen sie vielleicht
das Wissen mühevoll zu erlernen. Wer aber weiß um das Wissen? wer
aber trennt das Tun? Wer dem Materiellen entsagt, kann nicht gleichzeitig
Materielles schaffen, es sei denn zur eigenen Notwendigkeit in der materiellen
Entsagung nach innen zu sehen.
"Du, der du der Wegelagerei aber huldigst, glaube nicht, ohne die weltlichen
Dinge fruchtbar zu sein, denn du heißest nicht Waldschrat!"
Man kann nur über die Ebene urteilen, in der man gerade sich befindet.
Über das Nichts ist nicht zu urteilen, sobald man sich seiend glaubt.
Das menschliche Sein - das Bewusstsein - endet es mit dem Tod? Erst nach dem
Sein ist über etwas anderes - über das Nichts - ein Urteil möglich.
Zeugung und Geburt beenden wieder das Nichts. Wie geringfügig ist das
einzelne Leben?
Das Wesen der Seele bleibt unbekannt. Dringt sie nach der Befruchtung oder
später nach der Geburt ins stoffliche Element, oder gedeiht sie, so wie
Geist und Körper gedeihen? Beginnt sie wie der Atem? Und was geschieht
mit der Seele, wenn die Leiber sterben und der Geist erlischt?
Was kann je aus Nichts erschaffen werden?
Auf die Winter folgen wieder Sommer. Tritt er an Orte, die er viele Male schon
um einen Moment der Rast bat. Sein Bett stellt er unter eine riesige Esche.
"Wiege leise deine Zweige voll des sommerlich schweren Grüns, biege
kraftvoll die Äste nach der Erde und in die Höhe! Schließe
bedächtig die Krone, das wohl gesorgte Dach um den prächtigen Stamm,
dem es obliegt, all das Gewichtige deiner Arme und das lustige Tanzen der
Blätter zu tragen! Fülle das Laub zu einer Hausung um mein Bett,
das ich gestellt an deinen Stamm voll Ehrfurcht! Zum Liegen komme abendlich
an deiner Gastfreundschaft. Meine Alterswiege belächeln deine Zweige
in den Winden."
Dieser Baum mit seinen starken Wurzeln; rauben diese Wurzeln fürs gesamte
Leben ihm die Freiheit; aber dieser Riese hat eine Heimat, die er bewohnt
und die er beschattet. Heimat gegen eine Freiheit, aus diesem Hader greift
Ahasver seinen Zwang zum Weitergehen. Zwei Einsame werden verständig,
Ahasver und sein Hüter für eine Nacht.
Wer wissen will, wie die Kontur zerfällt, ziehe sich aus den Täglichkeiten
zurück, von Außen hereinzuschauen. Aus dem Wald aber dröhnt
es ihm entgegen:
"Jedes Wesen, welches Energie freimachen kann, strahlt, gleich wie grell
oder zurückhaltend die Hülle ist. Das Dunkel empfängt, Festhalten
ist seine Art. Das Helle aber bringt Widerstand dem Kommenden. Hell heißt,
nicht empfangen. Stahlen heißt, eigenes abgeben."
So muss es bleiben. Nichts Verändertes unter dem Himmel von Sternen und
Planeten, stetig verkünden sie Unheilvolles und Gütiges fest auf
ihren Ellipsen. Soll eines Tags sich dieses ändern, so alles, und so
muss es vor dem Neuen erst zur Katastrophe führen. Nichts mehr von dem,
was leuchtete einst, wird danach leuchten wie zuvor. Und wenn es so geschehen
wird, so kann dies doch einer Schöpfung gleich für alles je hernach
noch sein und müssen.
Und gab es eine Schöpfung, wie es sich die Vorstellung will, war sie
derart.
Jahre vergehen, Ahasver geht wie die Jahre, weiter, ungetrieben, ohne Halt.
Das Recht zu leben beinhaltet auch das Recht zu sterben; geduldig wartet er
darauf, unfreiwillig, heimatlos.
Selten, in klaren Vollmondnächten, wenn das Schlaflager ohne Schutz unter
dem offenen Sternenhimmel auf einem väterlichen Grund sich großzügig
gibt, können die streitenden Sehnsüchte sich vermischen: Frei sein
in der Heimat oder heimatlich in der Freiheit. Es verliert sich jede Lust,
ein Versteck zu verstecken, wenn beides zu ahnen ist.
Der letzte Tag ist noch fern, freund sind ihm die Steine der Straßen,
die Sande der Wege, die Balken der Stege, Asphalt der Alleen. Ohne Stöhnen
erduldeten sie sein Treten. Ein Gehender geht weiter, der Erfahrende wird
nichts mehr bemerken.
"Durst hat mich stets begleitet, ich verberge ihn nicht
mehr, trage ihn offen, wie meinen alten Mantel, den vor mir schon andere
abgetragen hatten. Nun ist der Hunger mir wie ein Ausweis. Straßenstaub,
der an mir haftet, ist keine Schande."
Verliert er das Fluchen, verliert er das Wundern, wohnt in ihm das Irren im
Körper und das Ruhen im Geist. Niemanden tritt er mit Füßen
und achtet dafür auch niemanden, weiß er von der Unteilbarkeit
des ewigen Zuges.
"Das Zerstreute oder das Dichte: Wie gleichen sich die Gestalten.
Das Oben der Welt und das Unten der Verkehrung: Wie wahllos ist der Sinn.
Wenn der Tod endlich erlösen wird meinen endlosen Gang, so will ich
am Wegesrand verscharrt werden. Heimat war die Strasse mir und soll auch
meine letzte Stätte werden."
Spricht Ahasver und geht hinfort.
21.06.2003